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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Gedichte mochten verschwinden; was in Ilias und Odyssee stand,
war ewigem Gedächtniss anvertraut. Von da an liess die
Phantasie der griechischen Dichter und des griechischen Volkes
die schmeichelnde Vorstellung eines fernen Landes der Selig-
keit, in das einzelne Sterbliche durch Göttergunst entrückt
werden, nicht wieder los. Selbst die dürftigen Notizen, die
uns von dem Inhalt der Heldengedichte berichten, welche die
zwei homerischen Epen, vorbereitend, weiterführend, verknüpfend
in den vollen Kreis der thebanischen und troischen Heldensage
einschlossen, lassen uns erkennen, wie diese nachhomerische
Dichtung sich in der Ausführung weiterer Beispiele von Ent-
rückungen gefiel.

Die Kypria zuerst erzählten, wie Agamemnon, als das
Heer der Achäer zum zweiten Male in Aulis lag und durch
widrige Winde, die Artemis schickte, festgehalten wurde, auf
Geheiss des Kalchas der Göttin die eigene Tochter Iphigenia
opfern wollte. Artemis aber entraffte die Jungfrau und ent-
rückte sie in's Land der Taurier und machte sie dort un-
sterblich 1).

Die Aethiopis, die Ilias fortsetzend, erzählte von der Hülfe,
die Penthesilea mit ihren Amazonen, nach deren Tod Memnon,
der Aethiopenfürst, ein phantastischer Vertreter der Königs-
macht östlicher Reiche im inneren Asien, den Troern brachte.
Im Kampfe fällt Antilochos, nach Patroklos' Tode der neue Lieb-
ling des Achill; aber Achill erlegt den Memnon selbst: da
erbittet Eos, die Mutter des Memnon (und als solche schon
der Odyssee bekannt) den Zeus und gewährt dem Sohne Un-
sterblichkeit 2). Man darf annehmen, dass der Dichter erzählte,
was man auf Vasenbildern mehrfach dargestellt sieht: wie die
Mutter durch die Luft den Leichnam des Sohnes entführte.

1) Artemis de auten exarpaxasa eis Taurous metakomizei (vgl. das
metetheken auton o theos von Henoch, 1. Mos. 5, 24) kai athanaton poiei,
elaphon de anti tes kores paristesi to bomo, Proclus (p. 19 Kink).
2) -- touto (to Memnoni) Eos para Dios aitesamene athanasian didosi,
sagt, allzu kurz, Proclus (p. 33 K.).

Gedichte mochten verschwinden; was in Ilias und Odyssee stand,
war ewigem Gedächtniss anvertraut. Von da an liess die
Phantasie der griechischen Dichter und des griechischen Volkes
die schmeichelnde Vorstellung eines fernen Landes der Selig-
keit, in das einzelne Sterbliche durch Göttergunst entrückt
werden, nicht wieder los. Selbst die dürftigen Notizen, die
uns von dem Inhalt der Heldengedichte berichten, welche die
zwei homerischen Epen, vorbereitend, weiterführend, verknüpfend
in den vollen Kreis der thebanischen und troischen Heldensage
einschlossen, lassen uns erkennen, wie diese nachhomerische
Dichtung sich in der Ausführung weiterer Beispiele von Ent-
rückungen gefiel.

Die Kypria zuerst erzählten, wie Agamemnon, als das
Heer der Achäer zum zweiten Male in Aulis lag und durch
widrige Winde, die Artemis schickte, festgehalten wurde, auf
Geheiss des Kalchas der Göttin die eigene Tochter Iphigenia
opfern wollte. Artemis aber entraffte die Jungfrau und ent-
rückte sie in’s Land der Taurier und machte sie dort un-
sterblich 1).

Die Aethiopis, die Ilias fortsetzend, erzählte von der Hülfe,
die Penthesilea mit ihren Amazonen, nach deren Tod Memnon,
der Aethiopenfürst, ein phantastischer Vertreter der Königs-
macht östlicher Reiche im inneren Asien, den Troern brachte.
Im Kampfe fällt Antilochos, nach Patroklos’ Tode der neue Lieb-
ling des Achill; aber Achill erlegt den Memnon selbst: da
erbittet Eos, die Mutter des Memnon (und als solche schon
der Odyssee bekannt) den Zeus und gewährt dem Sohne Un-
sterblichkeit 2). Man darf annehmen, dass der Dichter erzählte,
was man auf Vasenbildern mehrfach dargestellt sieht: wie die
Mutter durch die Luft den Leichnam des Sohnes entführte.

1) Ἄρτεμις δὲ αὐτὴν ἐξαρπάξασα εἰς Ταύρους μετακομίζει (vgl. das
μετέϑηκεν αὐτὸν ὁ ϑεός von Henoch, 1. Mos. 5, 24) καὶ ἀϑάνατον ποιεῖ,
ἔλαφον δὲ ἀντὶ τῆς κόρης παρίστησι τῷ βωμῷ, Proclus (p. 19 Kink).
2) — τούτῳ (τῷ Μέμνονι) Ἠὼς παρὰ Διὸς αἰτησαμένη ἀϑανασίαν δίδωσι,
sagt, allzu kurz, Proclus (p. 33 K.).
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[79/0095] Gedichte mochten verschwinden; was in Ilias und Odyssee stand, war ewigem Gedächtniss anvertraut. Von da an liess die Phantasie der griechischen Dichter und des griechischen Volkes die schmeichelnde Vorstellung eines fernen Landes der Selig- keit, in das einzelne Sterbliche durch Göttergunst entrückt werden, nicht wieder los. Selbst die dürftigen Notizen, die uns von dem Inhalt der Heldengedichte berichten, welche die zwei homerischen Epen, vorbereitend, weiterführend, verknüpfend in den vollen Kreis der thebanischen und troischen Heldensage einschlossen, lassen uns erkennen, wie diese nachhomerische Dichtung sich in der Ausführung weiterer Beispiele von Ent- rückungen gefiel. Die Kypria zuerst erzählten, wie Agamemnon, als das Heer der Achäer zum zweiten Male in Aulis lag und durch widrige Winde, die Artemis schickte, festgehalten wurde, auf Geheiss des Kalchas der Göttin die eigene Tochter Iphigenia opfern wollte. Artemis aber entraffte die Jungfrau und ent- rückte sie in’s Land der Taurier und machte sie dort un- sterblich 1). Die Aethiopis, die Ilias fortsetzend, erzählte von der Hülfe, die Penthesilea mit ihren Amazonen, nach deren Tod Memnon, der Aethiopenfürst, ein phantastischer Vertreter der Königs- macht östlicher Reiche im inneren Asien, den Troern brachte. Im Kampfe fällt Antilochos, nach Patroklos’ Tode der neue Lieb- ling des Achill; aber Achill erlegt den Memnon selbst: da erbittet Eos, die Mutter des Memnon (und als solche schon der Odyssee bekannt) den Zeus und gewährt dem Sohne Un- sterblichkeit 2). Man darf annehmen, dass der Dichter erzählte, was man auf Vasenbildern mehrfach dargestellt sieht: wie die Mutter durch die Luft den Leichnam des Sohnes entführte. 1) Ἄρτεμις δὲ αὐτὴν ἐξαρπάξασα εἰς Ταύρους μετακομίζει (vgl. das μετέϑηκεν αὐτὸν ὁ ϑεός von Henoch, 1. Mos. 5, 24) καὶ ἀϑάνατον ποιεῖ, ἔλαφον δὲ ἀντὶ τῆς κόρης παρίστησι τῷ βωμῷ, Proclus (p. 19 Kink). 2) — τούτῳ (τῷ Μέμνονι) Ἠὼς παρὰ Διὸς αἰτησαμένη ἀϑανασίαν δίδωσι, sagt, allzu kurz, Proclus (p. 33 K.).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/95>, abgerufen am 23.11.2024.