ohne doch zu sterben, entrückt zu werden aus dem Lande der Lebendigen, das ihr unleidlich geworden ist. Die solche Ent- führung bewirken, sind die "Harpyien" oder der "Sturmwind", das ist dasselbe; denn nichts anderes als Windgeister einer besonders unheimlichen Art sind die Harpyien, der Teufels- braut oder "Windsbraut" vergleichbar, die nach deutschem Volksglauben im Wirbelwind daherfährt, auch wohl Menschen mit sich entführt 1). Die Harpyien und was hier von ihnen erzählt wird, gehören der bei Homer selten einmal durch- blickenden "niederen Mythologie" an, die von vielen Dingen zwischen Himmel und Erde wissen mochte, von denen das vornehme Epos keine Notiz nimmt. Bei Homer sind sie nicht aus eigener Macht thätig; nur als Dienerinnen der Götter oder eines Gottes entraffen sie Sterbliche dahin, wohin keine menschliche Kunde und Macht dringt 2).
Nur ein weiteres Beispiel solcher Entrückung durch Willen und Macht der Götter ist auch die dem Menelaos vorausverkündigte Entsendung nach dem elysischen Gefilde am Ende der Erde. Selbst dass ihm dauernder Aufenthalt in jenem, lebendigen Menschen sonst unzugänglichen Wunsch- lande zugesagt wird, unterscheidet sein Geschick noch nicht wesentlich von dem der Töchter des Pandareos und dem ähn- lichen, das Penelope sich selbst wünscht. Aber freilich nicht im Hades oder an dessen Eingang, sondern an einem be- sonderen Wohnplatze der Seligkeit wird dem Menelaos ewiges
gehungen Einzelner gegen Familienrecht schon im Leben bestrafen: z. B. Il. 9, 454; Od. 11, 278, so muss man sie -- da eine Wirkung in die Ferne unglaublich ist -- sich wohl auch gelegentlich als auf Erden umgehend denken, wie bei Hesiod. W. u. T. 803 f.
1) "Wenn die Windsbraut daher fährt, soll man sich auf den Boden legen, wie beim Muodisheere (vgl. hierüber Grimm, D. M.4 789), weil sie sonst einen mitnimmt." Birlinger, Volksthüml. a. Schwaben I 192. "Sie ist die Teufelsbraut" ibid. (über die "Windsbraut" vgl. Grimm, D. Myth.4 I S. 525 ff. III 179). Solche Windgeister stehen in einem unheimlichen Zusammenhang mit dem "wilden Heere", d. h. den Nachts durch die Luft fahrenden unruhigen "Seelen".
2) S. Anhang 7.
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ohne doch zu sterben, entrückt zu werden aus dem Lande der Lebendigen, das ihr unleidlich geworden ist. Die solche Ent- führung bewirken, sind die „Harpyien“ oder der „Sturmwind“, das ist dasselbe; denn nichts anderes als Windgeister einer besonders unheimlichen Art sind die Harpyien, der Teufels- braut oder „Windsbraut“ vergleichbar, die nach deutschem Volksglauben im Wirbelwind daherfährt, auch wohl Menschen mit sich entführt 1). Die Harpyien und was hier von ihnen erzählt wird, gehören der bei Homer selten einmal durch- blickenden „niederen Mythologie“ an, die von vielen Dingen zwischen Himmel und Erde wissen mochte, von denen das vornehme Epos keine Notiz nimmt. Bei Homer sind sie nicht aus eigener Macht thätig; nur als Dienerinnen der Götter oder eines Gottes entraffen sie Sterbliche dahin, wohin keine menschliche Kunde und Macht dringt 2).
Nur ein weiteres Beispiel solcher Entrückung durch Willen und Macht der Götter ist auch die dem Menelaos vorausverkündigte Entsendung nach dem elysischen Gefilde am Ende der Erde. Selbst dass ihm dauernder Aufenthalt in jenem, lebendigen Menschen sonst unzugänglichen Wunsch- lande zugesagt wird, unterscheidet sein Geschick noch nicht wesentlich von dem der Töchter des Pandareos und dem ähn- lichen, das Penelope sich selbst wünscht. Aber freilich nicht im Hades oder an dessen Eingang, sondern an einem be- sonderen Wohnplatze der Seligkeit wird dem Menelaos ewiges
gehungen Einzelner gegen Familienrecht schon im Leben bestrafen: z. B. Il. 9, 454; Od. 11, 278, so muss man sie — da eine Wirkung in die Ferne unglaublich ist — sich wohl auch gelegentlich als auf Erden umgehend denken, wie bei Hesiod. W. u. T. 803 f.
1) „Wenn die Windsbraut daher fährt, soll man sich auf den Boden legen, wie beim Muodisheere (vgl. hierüber Grimm, D. M.4 789), weil sie sonst einen mitnimmt.“ Birlinger, Volksthüml. a. Schwaben I 192. „Sie ist die Teufelsbraut“ ibid. (über die „Windsbraut“ vgl. Grimm, D. Myth.4 I S. 525 ff. III 179). Solche Windgeister stehen in einem unheimlichen Zusammenhang mit dem „wilden Heere“, d. h. den Nachts durch die Luft fahrenden unruhigen „Seelen“.
2) S. Anhang 7.
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führung bewirken, sind die „Harpyien“ oder der „Sturmwind“,
das ist dasselbe; denn nichts anderes als Windgeister einer
besonders unheimlichen Art sind die Harpyien, der Teufels-
braut oder „Windsbraut“ vergleichbar, die nach deutschem
Volksglauben im Wirbelwind daherfährt, auch wohl Menschen
mit sich entführt 1). Die Harpyien und was hier von ihnen
erzählt wird, gehören der bei Homer selten einmal durch-
blickenden „niederen Mythologie“ an, die von vielen Dingen
zwischen Himmel und Erde wissen mochte, von denen das
vornehme Epos keine Notiz nimmt. Bei Homer sind sie nicht
aus eigener Macht thätig; nur als Dienerinnen der Götter
oder eines Gottes entraffen sie Sterbliche dahin, wohin keine
menschliche Kunde und Macht dringt 2).
Nur ein weiteres Beispiel solcher Entrückung durch
Willen und Macht der Götter ist auch die dem Menelaos
vorausverkündigte Entsendung nach dem elysischen Gefilde
am Ende der Erde. Selbst dass ihm dauernder Aufenthalt
in jenem, lebendigen Menschen sonst unzugänglichen Wunsch-
lande zugesagt wird, unterscheidet sein Geschick noch nicht
wesentlich von dem der Töchter des Pandareos und dem ähn-
lichen, das Penelope sich selbst wünscht. Aber freilich nicht
im Hades oder an dessen Eingang, sondern an einem be-
sonderen Wohnplatze der Seligkeit wird dem Menelaos ewiges
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1) „Wenn die Windsbraut daher fährt, soll man sich auf den Boden
legen, wie beim Muodisheere (vgl. hierüber Grimm, D. M.4 789), weil
sie sonst einen mitnimmt.“ Birlinger, Volksthüml. a. Schwaben I 192.
„Sie ist die Teufelsbraut“ ibid. (über die „Windsbraut“ vgl. Grimm,
D. Myth.4 I S. 525 ff. III 179). Solche Windgeister stehen in einem
unheimlichen Zusammenhang mit dem „wilden Heere“, d. h. den Nachts
durch die Luft fahrenden unruhigen „Seelen“.
2) S. Anhang 7.
3) gehungen Einzelner gegen Familienrecht schon im Leben bestrafen:
z. B. Il. 9, 454; Od. 11, 278, so muss man sie — da eine Wirkung in
die Ferne unglaublich ist — sich wohl auch gelegentlich als auf Erden
umgehend denken, wie bei Hesiod. W. u. T. 803 f.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/83>, abgerufen am 24.11.2024.
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