an Odysseus vorüber, die doch nicht mehr Recht als andere auf seine Theilnahme hatten und die man auch mit ihm in irgend einen Zusammenhang zu setzen nur schwache Versuche machte 1). Schien hiermit die Masse der Todten, in aus- erwählten Vertretern, besser vergegenwärtigt, so sollten nun auch die Zustände dort unten wenigstens in Beispielen dar- gestellt werden. Odysseus thut einen Blick in das Innere des Todtenreiches (was ihm eigentlich bei seiner Stellung am äussersten Eingange unmöglich war 2) und erblickt da solche Heldengestalten, welche die Thätigkeit ihres einstigen Lebens, als rechte "Abbilder" (eidola) der Lebendigen, fortsetzen: Minos richtend unter den Seelen, Orion jagend, Herakles immer noch den Bogen in der Hand, den Pfeil auf der Sehne einem "stets Abschnellenden ähnlich". Das ist nicht Herakles, der "Heros-Gott", wie ihn die Späteren kennen; der Dichter weiss noch nichts von der Erhöhung des Zeussohnes über das Loos aller Sterblichen, so wenig wie der erste Dichter der Hades- fahrt von einer Entrückung des Achill aus dem Hades etwas weiss. Späteren Lesern musste freilich dies ein Versäumniss dünken. Solche haben denn auch mit kecker Hand drei Verse eingelegt, in denen berichtet wird, wie "er selbst", der wahre Herakles, unter den Göttern wohne; was Odysseus im Hades sah, sei nur sein "Abbild". Der dies schrieb, trieb Theologie auf eigene Hand: von einem solchen Gegensatz zwischen einem volllebendigen, also Leib und Seele des Menschen vereinigt enthaltenden "Selbst" und einem, in den Hades gebannten leeren "Abbild", welches aber nicht die Psyche sein kann, weiss weder Homer etwas noch das Griechenthum späterer Zeit 3). Es ist eine Verlegenheitsauskunft ältester Harmonistik.
1) Eigentlich soll Odysseus mit den einzelnen Weibern in Zwiege- spräch treten und eine jede ihr Geschick ihm berichten: v. 231--234; es heisst denn auch noch hie und da: phato 236, phe 237, eukheto 261, phaske 306. Aber durchweg hat das Ganze den Charakter einer einfachen Auf- zählung, Odysseus steht unbetheiligt daneben.
2) S. Anhang 5.
3) S. Anhang 6.
an Odysseus vorüber, die doch nicht mehr Recht als andere auf seine Theilnahme hatten und die man auch mit ihm in irgend einen Zusammenhang zu setzen nur schwache Versuche machte 1). Schien hiermit die Masse der Todten, in aus- erwählten Vertretern, besser vergegenwärtigt, so sollten nun auch die Zustände dort unten wenigstens in Beispielen dar- gestellt werden. Odysseus thut einen Blick in das Innere des Todtenreiches (was ihm eigentlich bei seiner Stellung am äussersten Eingange unmöglich war 2) und erblickt da solche Heldengestalten, welche die Thätigkeit ihres einstigen Lebens, als rechte „Abbilder“ (εἴδωλα) der Lebendigen, fortsetzen: Minos richtend unter den Seelen, Orion jagend, Herakles immer noch den Bogen in der Hand, den Pfeil auf der Sehne einem „stets Abschnellenden ähnlich“. Das ist nicht Herakles, der „Heros-Gott“, wie ihn die Späteren kennen; der Dichter weiss noch nichts von der Erhöhung des Zeussohnes über das Loos aller Sterblichen, so wenig wie der erste Dichter der Hades- fahrt von einer Entrückung des Achill aus dem Hades etwas weiss. Späteren Lesern musste freilich dies ein Versäumniss dünken. Solche haben denn auch mit kecker Hand drei Verse eingelegt, in denen berichtet wird, wie „er selbst“, der wahre Herakles, unter den Göttern wohne; was Odysseus im Hades sah, sei nur sein „Abbild“. Der dies schrieb, trieb Theologie auf eigene Hand: von einem solchen Gegensatz zwischen einem volllebendigen, also Leib und Seele des Menschen vereinigt enthaltenden „Selbst“ und einem, in den Hades gebannten leeren „Abbild“, welches aber nicht die Psyche sein kann, weiss weder Homer etwas noch das Griechenthum späterer Zeit 3). Es ist eine Verlegenheitsauskunft ältester Harmonistik.
1) Eigentlich soll Odysseus mit den einzelnen Weibern in Zwiege- spräch treten und eine jede ihr Geschick ihm berichten: v. 231—234; es heisst denn auch noch hie und da: φάτο 236, φῆ 237, εὔχετο 261, φάσκε 306. Aber durchweg hat das Ganze den Charakter einer einfachen Auf- zählung, Odysseus steht unbetheiligt daneben.
2) S. Anhang 5.
3) S. Anhang 6.
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an Odysseus vorüber, die doch nicht mehr Recht als andere
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irgend einen Zusammenhang zu setzen nur schwache Versuche
machte 1). Schien hiermit die Masse der Todten, in aus-
erwählten Vertretern, besser vergegenwärtigt, so sollten nun
auch die Zustände dort unten wenigstens in Beispielen dar-
gestellt werden. Odysseus thut einen Blick in das Innere des
Todtenreiches (was ihm eigentlich bei seiner Stellung am
äussersten Eingange unmöglich war 2) und erblickt da solche
Heldengestalten, welche die Thätigkeit ihres einstigen Lebens,
als rechte „Abbilder“ (εἴδωλα) der Lebendigen, fortsetzen:
Minos richtend unter den Seelen, Orion jagend, Herakles immer
noch den Bogen in der Hand, den Pfeil auf der Sehne einem
„stets Abschnellenden ähnlich“. Das ist nicht Herakles, der
„Heros-Gott“, wie ihn die Späteren kennen; der Dichter weiss
noch nichts von der Erhöhung des Zeussohnes über das Loos
aller Sterblichen, so wenig wie der erste Dichter der Hades-
fahrt von einer Entrückung des Achill aus dem Hades etwas
weiss. Späteren Lesern musste freilich dies ein Versäumniss
dünken. Solche haben denn auch mit kecker Hand drei Verse
eingelegt, in denen berichtet wird, wie „er selbst“, der wahre
Herakles, unter den Göttern wohne; was Odysseus im Hades
sah, sei nur sein „Abbild“. Der dies schrieb, trieb Theologie
auf eigene Hand: von einem solchen Gegensatz zwischen einem
volllebendigen, also Leib und Seele des Menschen vereinigt
enthaltenden „Selbst“ und einem, in den Hades gebannten
leeren „Abbild“, welches aber nicht die Psyche sein kann,
weiss weder Homer etwas noch das Griechenthum späterer
Zeit 3). Es ist eine Verlegenheitsauskunft ältester Harmonistik.
1) Eigentlich soll Odysseus mit den einzelnen Weibern in Zwiege-
spräch treten und eine jede ihr Geschick ihm berichten: v. 231—234; es
heisst denn auch noch hie und da: φάτο 236, φῆ 237, εὔχετο 261, φάσκε
306. Aber durchweg hat das Ganze den Charakter einer einfachen Auf-
zählung, Odysseus steht unbetheiligt daneben.
2) S. Anhang 5.
3) S. Anhang 6.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/72>, abgerufen am 28.11.2024.
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