und mit unbedachter Naivetät hervortritt, dass auch zu der Zeit der Herrschaft des homerischen Glaubens an völlige Nichtigkeit der für ewig abgeschiedenen Seelen die Darbringung von Todtenopfern lange nach der Bestattung (wenigstens ausser- ordentlicher, wenn auch nicht regelmässig wiederholter) nicht ganz in Vergessenheit gerathen war.
4.
Zeigt sich an den Inconsequenzen, zu welchen den Dichter die Darstellung der Einleitung eines Verkehrs des Lebenden mit den Todten verleitet, dass sein Unternehmen für einen Homeriker strenger Observanz ein Wagniss war, so ist er doch in dem, was ihm die Hauptsache war, der Schilderung der Begegnung des Odysseus mit Mutter und Genossen, kaum merklich von der homerischen Bahn abgewichen. Hier nun aber hatte er dichterisch begabten Lesern oder Hörern seines Ge- dichts nicht genug gethan. Was ihm selbst, der auf den im Mittelpunct stehenden lebenden Helden alles bezog und nur solche Seelen herantreten liess, die zu diesem in innerlich be- gründetem Verhältniss stehen, gleichgültig war, eine Musterung des wirren Getümmels der Unterirdischen in ihrer Masse, das eben meinten Spätere nicht entbehren zu können. Sein Gedicht weiter ausführend, liessen sie theils Todte jeden Alters her- anschweben, die Krieger darunter noch mit sichtbarer Wunde, in blutiger Rüstung 1), theils führen sie, mehr hesiodisch auf- zählend für die Erinnerung als homerisch für die Anschauung belebend, eine Schaar von Heldenmüttern grosser Geschlechter
vernehme, was auf der Oberwelt geschieht, wird nur hypothetisch (ai ke) hingestellt, nicht so die Absicht, dem Verstorbenen von den Gaben des Priamus etwas zuzutheilen (di epitaphion eis auton agonon, meint Schol. B. V. zu 594). Eben das Ungewöhnliche solchen Versprechens scheint einen der Gründe abgegeben zu haben, aus denen Aristarch (jedenfalls mit Unrecht) v. 594 und 595 athetirte.
1) v. 40, 41. Dies nicht unhomerisch: vgl. namentlich Il. 14, 456 f. (So sieht man auf Vasenbildern die Psyche eines erschlagenen Kriegers nicht selten in voller Rüstung, wiewohl -- die Unsichtbarkeit andeutend -- in sehr kleiner Gestalt über dem Leichnam schweben.)
und mit unbedachter Naivetät hervortritt, dass auch zu der Zeit der Herrschaft des homerischen Glaubens an völlige Nichtigkeit der für ewig abgeschiedenen Seelen die Darbringung von Todtenopfern lange nach der Bestattung (wenigstens ausser- ordentlicher, wenn auch nicht regelmässig wiederholter) nicht ganz in Vergessenheit gerathen war.
4.
Zeigt sich an den Inconsequenzen, zu welchen den Dichter die Darstellung der Einleitung eines Verkehrs des Lebenden mit den Todten verleitet, dass sein Unternehmen für einen Homeriker strenger Observanz ein Wagniss war, so ist er doch in dem, was ihm die Hauptsache war, der Schilderung der Begegnung des Odysseus mit Mutter und Genossen, kaum merklich von der homerischen Bahn abgewichen. Hier nun aber hatte er dichterisch begabten Lesern oder Hörern seines Ge- dichts nicht genug gethan. Was ihm selbst, der auf den im Mittelpunct stehenden lebenden Helden alles bezog und nur solche Seelen herantreten liess, die zu diesem in innerlich be- gründetem Verhältniss stehen, gleichgültig war, eine Musterung des wirren Getümmels der Unterirdischen in ihrer Masse, das eben meinten Spätere nicht entbehren zu können. Sein Gedicht weiter ausführend, liessen sie theils Todte jeden Alters her- anschweben, die Krieger darunter noch mit sichtbarer Wunde, in blutiger Rüstung 1), theils führen sie, mehr hesiodisch auf- zählend für die Erinnerung als homerisch für die Anschauung belebend, eine Schaar von Heldenmüttern grosser Geschlechter
vernehme, was auf der Oberwelt geschieht, wird nur hypothetisch (αἴ κε) hingestellt, nicht so die Absicht, dem Verstorbenen von den Gaben des Priamus etwas zuzutheilen (δι̕ ἐπιταφίων εἰς αὐτὸν ἀγώνων, meint Schol. B. V. zu 594). Eben das Ungewöhnliche solchen Versprechens scheint einen der Gründe abgegeben zu haben, aus denen Aristarch (jedenfalls mit Unrecht) v. 594 und 595 athetirte.
1) v. 40, 41. Dies nicht unhomerisch: vgl. namentlich Il. 14, 456 f. (So sieht man auf Vasenbildern die Psyche eines erschlagenen Kriegers nicht selten in voller Rüstung, wiewohl — die Unsichtbarkeit andeutend — in sehr kleiner Gestalt über dem Leichnam schweben.)
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und mit unbedachter Naivetät hervortritt, dass auch zu der
Zeit der Herrschaft des homerischen Glaubens an völlige
Nichtigkeit der für ewig abgeschiedenen Seelen die Darbringung
von Todtenopfern lange nach der Bestattung (wenigstens ausser-
ordentlicher, wenn auch nicht regelmässig wiederholter) nicht
ganz in Vergessenheit gerathen war.
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Zeigt sich an den Inconsequenzen, zu welchen den Dichter
die Darstellung der Einleitung eines Verkehrs des Lebenden
mit den Todten verleitet, dass sein Unternehmen für einen
Homeriker strenger Observanz ein Wagniss war, so ist er
doch in dem, was ihm die Hauptsache war, der Schilderung
der Begegnung des Odysseus mit Mutter und Genossen, kaum
merklich von der homerischen Bahn abgewichen. Hier nun aber
hatte er dichterisch begabten Lesern oder Hörern seines Ge-
dichts nicht genug gethan. Was ihm selbst, der auf den im
Mittelpunct stehenden lebenden Helden alles bezog und nur
solche Seelen herantreten liess, die zu diesem in innerlich be-
gründetem Verhältniss stehen, gleichgültig war, eine Musterung
des wirren Getümmels der Unterirdischen in ihrer Masse, das
eben meinten Spätere nicht entbehren zu können. Sein Gedicht
weiter ausführend, liessen sie theils Todte jeden Alters her-
anschweben, die Krieger darunter noch mit sichtbarer Wunde,
in blutiger Rüstung 1), theils führen sie, mehr hesiodisch auf-
zählend für die Erinnerung als homerisch für die Anschauung
belebend, eine Schaar von Heldenmüttern grosser Geschlechter
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1) v. 40, 41. Dies nicht unhomerisch: vgl. namentlich Il. 14, 456 f.
(So sieht man auf Vasenbildern die Psyche eines erschlagenen Kriegers
nicht selten in voller Rüstung, wiewohl — die Unsichtbarkeit andeutend
— in sehr kleiner Gestalt über dem Leichnam schweben.)
2) vernehme, was auf der Oberwelt geschieht, wird nur hypothetisch (αἴ κε)
hingestellt, nicht so die Absicht, dem Verstorbenen von den Gaben des
Priamus etwas zuzutheilen (δι̕ ἐπιταφίων εἰς αὐτὸν ἀγώνων, meint Schol. B.
V. zu 594). Eben das Ungewöhnliche solchen Versprechens scheint einen
der Gründe abgegeben zu haben, aus denen Aristarch (jedenfalls mit
Unrecht) v. 594 und 595 athetirte.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/71>, abgerufen am 24.11.2024.
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