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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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der Allvernunft 1), die Möglichkeit der unvernünftigen Wahl
und der Entscheidung für das Böse. Sehr verschieden sind
nach Art, Einsicht und Willensrichtung die doch der einen
und gleichen Urquelle entflossenen Seelenindividuen. Unver-
nunft im Verstehen, Wollen und Handeln ist verbreitet im
Menschenwesen; wenig sind der wirklich Einsichtigen, ja, der
Weise, der den eigenen Willen in völliger Uebereinstimmung
mit dem allgemeinen und göttlichen Gesetze der Welt hielte,
ist nur ein Idealbild, naturae humanae exemplar, in der Wirk-
lichkeit niemals völlig rein dargestellt.

Es besteht ein Widerspruch zwischen der, im ethischen
Interesse geforderten Freiheit und Selbständigkeit der sitt-
lichen Einzelperson und ihres Willens, der nur in Selbstüber-
windung und Niederkämpfung unsittlicher Triebe den Forde-
rungen der Pflicht genügen kann, und der pantheistischen
Grundlehre stoischer Metaphysik, der die Welt (und die Seele
in ihr) nur die nothwendige Selbstentfaltung eines einzigen,
alle absondernde Mannichfaltigkeit ausschliessenden, absoluten
Wesens ist; die neben der reinen Gotteskraft ein widerver-
nünftiges, Böses bewirkendes und zu Bösem lockendes, den
Einzelnen zum eigenmächtigen Ausweichen aus den Bahnen
der allumfangenden Weltsatzung fähig und bereit machendes
Princip nicht kennt. Vergeblich müht sich der Scharfsinn der
Dogmatiker der Stoa, hier einen Ausgleich zu finden.

Zwei Strömungen flossen von Anbeginn der Schule in
ihren, von sehr verschiedenen Seiten her zusammengekommenen

1) Nach altstoischer Lehre, wie sie Chrysipp systematisirt hatte, ist
die Seele völlig einheitlich, aus der Allvernunft des Gottes entflossene
Vernunft, der kein alogon innewohnt. Ihre Triebe, ormai, müssen so ver-
nünftig sein, wie ihre Willensentscheidungen, kriseis, von aussen wirkt
auf sie die phusis ein, die selbst als eine Entfaltung der höchsten Vernunft,
der Gottheit, nur gut und vernünftig sein kann. Es ist allerdings un-
fassbar, woher, wenn die Grundlehren der alten Stoa bestehen sollen,
falsche Urtheile, übermässige und böse Triebe entstehen können, e tes
kakias genesis ist hiebei unverständlich, wie den subtilen Erörterungen
des Chrysipp hierüber Posidonius entgegenhielt (s. Schmekel, Philos. d.
mittl. Stoa
p. 327 ff.).

der Allvernunft 1), die Möglichkeit der unvernünftigen Wahl
und der Entscheidung für das Böse. Sehr verschieden sind
nach Art, Einsicht und Willensrichtung die doch der einen
und gleichen Urquelle entflossenen Seelenindividuen. Unver-
nunft im Verstehen, Wollen und Handeln ist verbreitet im
Menschenwesen; wenig sind der wirklich Einsichtigen, ja, der
Weise, der den eigenen Willen in völliger Uebereinstimmung
mit dem allgemeinen und göttlichen Gesetze der Welt hielte,
ist nur ein Idealbild, naturae humanae exemplar, in der Wirk-
lichkeit niemals völlig rein dargestellt.

Es besteht ein Widerspruch zwischen der, im ethischen
Interesse geforderten Freiheit und Selbständigkeit der sitt-
lichen Einzelperson und ihres Willens, der nur in Selbstüber-
windung und Niederkämpfung unsittlicher Triebe den Forde-
rungen der Pflicht genügen kann, und der pantheistischen
Grundlehre stoischer Metaphysik, der die Welt (und die Seele
in ihr) nur die nothwendige Selbstentfaltung eines einzigen,
alle absondernde Mannichfaltigkeit ausschliessenden, absoluten
Wesens ist; die neben der reinen Gotteskraft ein widerver-
nünftiges, Böses bewirkendes und zu Bösem lockendes, den
Einzelnen zum eigenmächtigen Ausweichen aus den Bahnen
der allumfangenden Weltsatzung fähig und bereit machendes
Princip nicht kennt. Vergeblich müht sich der Scharfsinn der
Dogmatiker der Stoa, hier einen Ausgleich zu finden.

Zwei Strömungen flossen von Anbeginn der Schule in
ihren, von sehr verschiedenen Seiten her zusammengekommenen

1) Nach altstoischer Lehre, wie sie Chrysipp systematisirt hatte, ist
die Seele völlig einheitlich, aus der Allvernunft des Gottes entflossene
Vernunft, der kein ἄλογον innewohnt. Ihre Triebe, ὁρμαί, müssen so ver-
nünftig sein, wie ihre Willensentscheidungen, κρίσεις, von aussen wirkt
auf sie die φύσις ein, die selbst als eine Entfaltung der höchsten Vernunft,
der Gottheit, nur gut und vernünftig sein kann. Es ist allerdings un-
fassbar, woher, wenn die Grundlehren der alten Stoa bestehen sollen,
falsche Urtheile, übermässige und böse Triebe entstehen können, ἡ τῆς
κακίας γένεσις ist hiebei unverständlich, wie den subtilen Erörterungen
des Chrysipp hierüber Posidonius entgegenhielt (s. Schmekel, Philos. d.
mittl. Stoa
p. 327 ff.).
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[604/0620] der Allvernunft 1), die Möglichkeit der unvernünftigen Wahl und der Entscheidung für das Böse. Sehr verschieden sind nach Art, Einsicht und Willensrichtung die doch der einen und gleichen Urquelle entflossenen Seelenindividuen. Unver- nunft im Verstehen, Wollen und Handeln ist verbreitet im Menschenwesen; wenig sind der wirklich Einsichtigen, ja, der Weise, der den eigenen Willen in völliger Uebereinstimmung mit dem allgemeinen und göttlichen Gesetze der Welt hielte, ist nur ein Idealbild, naturae humanae exemplar, in der Wirk- lichkeit niemals völlig rein dargestellt. Es besteht ein Widerspruch zwischen der, im ethischen Interesse geforderten Freiheit und Selbständigkeit der sitt- lichen Einzelperson und ihres Willens, der nur in Selbstüber- windung und Niederkämpfung unsittlicher Triebe den Forde- rungen der Pflicht genügen kann, und der pantheistischen Grundlehre stoischer Metaphysik, der die Welt (und die Seele in ihr) nur die nothwendige Selbstentfaltung eines einzigen, alle absondernde Mannichfaltigkeit ausschliessenden, absoluten Wesens ist; die neben der reinen Gotteskraft ein widerver- nünftiges, Böses bewirkendes und zu Bösem lockendes, den Einzelnen zum eigenmächtigen Ausweichen aus den Bahnen der allumfangenden Weltsatzung fähig und bereit machendes Princip nicht kennt. Vergeblich müht sich der Scharfsinn der Dogmatiker der Stoa, hier einen Ausgleich zu finden. Zwei Strömungen flossen von Anbeginn der Schule in ihren, von sehr verschiedenen Seiten her zusammengekommenen 1) Nach altstoischer Lehre, wie sie Chrysipp systematisirt hatte, ist die Seele völlig einheitlich, aus der Allvernunft des Gottes entflossene Vernunft, der kein ἄλογον innewohnt. Ihre Triebe, ὁρμαί, müssen so ver- nünftig sein, wie ihre Willensentscheidungen, κρίσεις, von aussen wirkt auf sie die φύσις ein, die selbst als eine Entfaltung der höchsten Vernunft, der Gottheit, nur gut und vernünftig sein kann. Es ist allerdings un- fassbar, woher, wenn die Grundlehren der alten Stoa bestehen sollen, falsche Urtheile, übermässige und böse Triebe entstehen können, ἡ τῆς κακίας γένεσις ist hiebei unverständlich, wie den subtilen Erörterungen des Chrysipp hierüber Posidonius entgegenhielt (s. Schmekel, Philos. d. mittl. Stoa p. 327 ff.).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/620>, abgerufen am 22.11.2024.