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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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die der Dichter so oft kundgiebt, könnte nach einem Trost in
einem voller befriedigenden Jenseits zu winken scheinen. Aber
nach dem Trost, den die Theologen darboten, hat ihn nicht
verlangt. Unter den mannichfach gewendeten Gedanken des
Dichters über ein Dasein das hinter dem Vorhang des Todes
sich aufthun könnte, tritt doch nie die, allen theologischen Ver-
heissungen zu Grunde liegende Vorstellung hervor, dass dem
seelischen Einzelwesen unvergängliches Leben gewiss sei, weil
es in seiner Individualität göttlicher Natur und selbst ein Gott
sei 1). Wohl ist er es, der das kühne, in späterer Zeit so oft
wiederholte und variirte Wort ausspricht, dass Gott nichts
andres sei als der in jedem Menschen wohnende Geist 2). Aber
hier ist keineswegs an die nach theologischer Lehre in das
Menschenleben verbannte Vielheit einzelner Götter oder Dä-
monen gedacht, sondern es wird hingedeutet auf eine halb
philosophische Seelenlehre, in der man am ersten eine bleibende
Ueberzeugung des Dichters ausgesprochen finden kann.

Mitten in ganz fremdartigen Zusammenhängen lässt Euri-
pides zuweilen Hindeutungen auf eine philosophische Ansicht
von Welt und Menschheit durchbrechen, die um so gewisser
als eigene Bekenntnisse des Dichters gelten müssen, weil sie
der Art der im Drama redenden Person kaum entsprechen,
aus ihrer Lage nicht hervorgehen. Aus Erde und dem "Aether
des Zeus" sind alle Dinge der Welt hervorgegangen; jene ist
der Mutterschoss, aus dem der Aether alles erzeugt 3). Beide
Grundbestandtheile treten zusammen zur Mannichfaltigkeit der
Erscheinungen; sie verschmelzen nicht miteinander, sie sind
nicht aus einem gemeinsamen Urelemente abzuleiten 4), sie

1) Palingenesie nur spielend einmal ausgemalt als zu fordernde Be-
lohnung der Tugendhaften: Herc. fur. 654--666. (Vgl. Marc. Aurel. eis
eauton 12, 5).
2) o nous gar emon estin en ekasto theos. fr. 1018.
3) fr. 839 (Chrysipp.); ganz physisch fr. 898, 7 ff. -- fr. 1023: Aithera
kai Gaian panton geneteiran aeido. fr. 1014.
4) fr. 484 (Melan. e sophe): -- os ouranos te gaia t en morphe mia
ktl. Auch hier ist nur von einem antänglichen Beisammensein der später

die der Dichter so oft kundgiebt, könnte nach einem Trost in
einem voller befriedigenden Jenseits zu winken scheinen. Aber
nach dem Trost, den die Theologen darboten, hat ihn nicht
verlangt. Unter den mannichfach gewendeten Gedanken des
Dichters über ein Dasein das hinter dem Vorhang des Todes
sich aufthun könnte, tritt doch nie die, allen theologischen Ver-
heissungen zu Grunde liegende Vorstellung hervor, dass dem
seelischen Einzelwesen unvergängliches Leben gewiss sei, weil
es in seiner Individualität göttlicher Natur und selbst ein Gott
sei 1). Wohl ist er es, der das kühne, in späterer Zeit so oft
wiederholte und variirte Wort ausspricht, dass Gott nichts
andres sei als der in jedem Menschen wohnende Geist 2). Aber
hier ist keineswegs an die nach theologischer Lehre in das
Menschenleben verbannte Vielheit einzelner Götter oder Dä-
monen gedacht, sondern es wird hingedeutet auf eine halb
philosophische Seelenlehre, in der man am ersten eine bleibende
Ueberzeugung des Dichters ausgesprochen finden kann.

Mitten in ganz fremdartigen Zusammenhängen lässt Euri-
pides zuweilen Hindeutungen auf eine philosophische Ansicht
von Welt und Menschheit durchbrechen, die um so gewisser
als eigene Bekenntnisse des Dichters gelten müssen, weil sie
der Art der im Drama redenden Person kaum entsprechen,
aus ihrer Lage nicht hervorgehen. Aus Erde und dem „Aether
des Zeus“ sind alle Dinge der Welt hervorgegangen; jene ist
der Mutterschoss, aus dem der Aether alles erzeugt 3). Beide
Grundbestandtheile treten zusammen zur Mannichfaltigkeit der
Erscheinungen; sie verschmelzen nicht miteinander, sie sind
nicht aus einem gemeinsamen Urelemente abzuleiten 4), sie

1) Palingenesie nur spielend einmal ausgemalt als zu fordernde Be-
lohnung der Tugendhaften: Herc. fur. 654—666. (Vgl. Marc. Aurel. εἰς
ἑαυτὸν 12, 5).
2) ὁ νοῦς γὰρ ἡμῶν ἐστιν ἐν ἑκάστῳ ϑεός. fr. 1018.
3) fr. 839 (Chrysipp.); ganz physisch fr. 898, 7 ff. — fr. 1023: Αἰϑέρα
καὶ Γαῖαν πάντων γενέτειραν ἀείδω. fr. 1014.
4) fr. 484 (Μελαν. ἡ σοφή): — ὡς οὐρανός τε γαῖα τ̕ ἦν μορφὴ μία
κτλ. Auch hier ist nur von einem antänglichen Beisammensein der später
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[546/0562] die der Dichter so oft kundgiebt, könnte nach einem Trost in einem voller befriedigenden Jenseits zu winken scheinen. Aber nach dem Trost, den die Theologen darboten, hat ihn nicht verlangt. Unter den mannichfach gewendeten Gedanken des Dichters über ein Dasein das hinter dem Vorhang des Todes sich aufthun könnte, tritt doch nie die, allen theologischen Ver- heissungen zu Grunde liegende Vorstellung hervor, dass dem seelischen Einzelwesen unvergängliches Leben gewiss sei, weil es in seiner Individualität göttlicher Natur und selbst ein Gott sei 1). Wohl ist er es, der das kühne, in späterer Zeit so oft wiederholte und variirte Wort ausspricht, dass Gott nichts andres sei als der in jedem Menschen wohnende Geist 2). Aber hier ist keineswegs an die nach theologischer Lehre in das Menschenleben verbannte Vielheit einzelner Götter oder Dä- monen gedacht, sondern es wird hingedeutet auf eine halb philosophische Seelenlehre, in der man am ersten eine bleibende Ueberzeugung des Dichters ausgesprochen finden kann. Mitten in ganz fremdartigen Zusammenhängen lässt Euri- pides zuweilen Hindeutungen auf eine philosophische Ansicht von Welt und Menschheit durchbrechen, die um so gewisser als eigene Bekenntnisse des Dichters gelten müssen, weil sie der Art der im Drama redenden Person kaum entsprechen, aus ihrer Lage nicht hervorgehen. Aus Erde und dem „Aether des Zeus“ sind alle Dinge der Welt hervorgegangen; jene ist der Mutterschoss, aus dem der Aether alles erzeugt 3). Beide Grundbestandtheile treten zusammen zur Mannichfaltigkeit der Erscheinungen; sie verschmelzen nicht miteinander, sie sind nicht aus einem gemeinsamen Urelemente abzuleiten 4), sie 1) Palingenesie nur spielend einmal ausgemalt als zu fordernde Be- lohnung der Tugendhaften: Herc. fur. 654—666. (Vgl. Marc. Aurel. εἰς ἑαυτὸν 12, 5). 2) ὁ νοῦς γὰρ ἡμῶν ἐστιν ἐν ἑκάστῳ ϑεός. fr. 1018. 3) fr. 839 (Chrysipp.); ganz physisch fr. 898, 7 ff. — fr. 1023: Αἰϑέρα καὶ Γαῖαν πάντων γενέτειραν ἀείδω. fr. 1014. 4) fr. 484 (Μελαν. ἡ σοφή): — ὡς οὐρανός τε γαῖα τ̕ ἦν μορφὴ μία κτλ. Auch hier ist nur von einem antänglichen Beisammensein der später

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/562>, abgerufen am 27.11.2024.