Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Seelencult wurzelnden, auf das Verhältniss der abgeschie-
denen Seelen zu der Welt der Erdenbewohner bezüglichen Ge-
danken höchst lebendig gegenwärtig sind, hat auf die Art und
Zustände der Verstorbenen in ihrer jenseitigen Abgeschieden-
heit den Blick nicht anhaltend richten wollen. Die Versitt-
lichung und Vertiefung alten Volksglaubens, die er sich ange-
legen sein liess, erwächst ihm doch völlig aus dem Boden dieses
Volksglaubens selbst, nicht anders als die streng erhabene
Gottesidee, die im Hintergrunde seines Weltbildes steht. In
dieser Generation der Männer, die bei Marathon gekämpft
hatten, bedurfte ein tiefer, ja herber Ernst der Betrachtung
von Welt und Schicksal noch kaum der Unterstützung durch
theologische Sectenmeinungen, die aus den Härten und Dunkel-
heiten dieser ungenügenden Wirklichkeit sich nur durch die
Flucht der Gedanken in ein geahntes Jenseits zu retten ver-
mochten.

5.

Zu den Grundproblemen einer Philosophie des Dramas,
den dunklen Fragen nach Freiheit und Gebundenheit des Wil-
lens, Schuld und Schicksal des Menschen, hat Sophokles
eine wesentlich andere Stellung als sein grosser Vorgänger.
Reifere, gelassener sich hingebende Beobachtung des Lebens
und seiner Irrgänge macht ihm einfache, schematische Auf-
lösungen der Verwicklungen weniger leicht, lässt ihn andere
und mannichfaltigere Wege des Verständnisses aufsuchen. Der

voraussetzen. Consequenz in diesen Dingen darf man eben bei einem
nicht-theologischen Dichter nicht suchen. Die psukhe des Todten ein
Schatten ohne Lebenssaft: fr. 229. Der Tod eine Zuflucht vor irdischem
Leid: fr. 353. Der schnelle Tod, den der Chor sich wünscht, Agam. 1449 ff.
bringt ton aei ateleuton upnon, also einen Zustand der Bewusstlosigkeit,
wenn nicht völliger Nichtigkeit. -- Der Schatten des Darius nimmt von
den persischen Grossen Abschied mit den Worten: umeis de, presbeis,
khairet, en kakois omos psukhen didontes edone kath emeran, os tois thanousi
ploutos ouden ophelei (Pers. 840 ff.). Diese Lebensauffassung soll vermuth-
lich orientalische Färbung tragen (wie jene Grabschrift des Sardanapal,
deren man sich hiebei mit Recht erinnert), die Begründung: os tois
thanousi -- wohl desgleichen.

dem Seelencult wurzelnden, auf das Verhältniss der abgeschie-
denen Seelen zu der Welt der Erdenbewohner bezüglichen Ge-
danken höchst lebendig gegenwärtig sind, hat auf die Art und
Zustände der Verstorbenen in ihrer jenseitigen Abgeschieden-
heit den Blick nicht anhaltend richten wollen. Die Versitt-
lichung und Vertiefung alten Volksglaubens, die er sich ange-
legen sein liess, erwächst ihm doch völlig aus dem Boden dieses
Volksglaubens selbst, nicht anders als die streng erhabene
Gottesidee, die im Hintergrunde seines Weltbildes steht. In
dieser Generation der Männer, die bei Marathon gekämpft
hatten, bedurfte ein tiefer, ja herber Ernst der Betrachtung
von Welt und Schicksal noch kaum der Unterstützung durch
theologische Sectenmeinungen, die aus den Härten und Dunkel-
heiten dieser ungenügenden Wirklichkeit sich nur durch die
Flucht der Gedanken in ein geahntes Jenseits zu retten ver-
mochten.

5.

Zu den Grundproblemen einer Philosophie des Dramas,
den dunklen Fragen nach Freiheit und Gebundenheit des Wil-
lens, Schuld und Schicksal des Menschen, hat Sophokles
eine wesentlich andere Stellung als sein grosser Vorgänger.
Reifere, gelassener sich hingebende Beobachtung des Lebens
und seiner Irrgänge macht ihm einfache, schematische Auf-
lösungen der Verwicklungen weniger leicht, lässt ihn andere
und mannichfaltigere Wege des Verständnisses aufsuchen. Der

voraussetzen. Consequenz in diesen Dingen darf man eben bei einem
nicht-theologischen Dichter nicht suchen. Die ψυχή des Todten ein
Schatten ohne Lebenssaft: fr. 229. Der Tod eine Zuflucht vor irdischem
Leid: fr. 353. Der schnelle Tod, den der Chor sich wünscht, Agam. 1449 ff.
bringt τὸν ἀεὶ ἀτέλευτον ὕπνον, also einen Zustand der Bewusstlosigkeit,
wenn nicht völliger Nichtigkeit. — Der Schatten des Darius nimmt von
den persischen Grossen Abschied mit den Worten: ὑμεῖς δὲ, πρέσβεις,
χαίρετ̕, ἐν κακοῖς ὅμως ψυχὴν διδόντες ἡδονῇ καϑ̕ ἡμέραν, ὡς τοῖς ϑανοῦσι
πλοῦτος οὐδὲν ὠφελεῖ (Pers. 840 ff.). Diese Lebensauffassung soll vermuth-
lich orientalische Färbung tragen (wie jene Grabschrift des Sardanapal,
deren man sich hiebei mit Recht erinnert), die Begründung: ὡς τοῖς
ϑανοῦσι — wohl desgleichen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0541" n="525"/>
dem Seelencult wurzelnden, auf das Verhältniss der abgeschie-<lb/>
denen Seelen zu der Welt der Erdenbewohner bezüglichen Ge-<lb/>
danken höchst lebendig gegenwärtig sind, hat auf die Art und<lb/>
Zustände der Verstorbenen in ihrer jenseitigen Abgeschieden-<lb/>
heit den Blick nicht anhaltend richten wollen. Die Versitt-<lb/>
lichung und Vertiefung alten Volksglaubens, die er sich ange-<lb/>
legen sein liess, erwächst ihm doch völlig aus dem Boden dieses<lb/>
Volksglaubens selbst, nicht anders als die streng erhabene<lb/>
Gottesidee, die im Hintergrunde seines Weltbildes steht. In<lb/>
dieser Generation der Männer, die bei Marathon gekämpft<lb/>
hatten, bedurfte ein tiefer, ja herber Ernst der Betrachtung<lb/>
von Welt und Schicksal noch kaum der Unterstützung durch<lb/>
theologische Sectenmeinungen, die aus den Härten und Dunkel-<lb/>
heiten dieser ungenügenden Wirklichkeit sich nur durch die<lb/>
Flucht der Gedanken in ein geahntes Jenseits zu retten ver-<lb/>
mochten.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>5.</head><lb/>
          <p>Zu den Grundproblemen einer Philosophie des Dramas,<lb/>
den dunklen Fragen nach Freiheit und Gebundenheit des Wil-<lb/>
lens, Schuld und Schicksal des Menschen, hat <hi rendition="#g">Sophokles</hi><lb/>
eine wesentlich andere Stellung als sein grosser Vorgänger.<lb/>
Reifere, gelassener sich hingebende Beobachtung des Lebens<lb/>
und seiner Irrgänge macht ihm einfache, schematische Auf-<lb/>
lösungen der Verwicklungen weniger leicht, lässt ihn andere<lb/>
und mannichfaltigere Wege des Verständnisses aufsuchen. Der<lb/><note xml:id="seg2pn_181_2" prev="#seg2pn_181_1" place="foot" n="3)">voraussetzen. Consequenz in diesen Dingen darf man eben bei einem<lb/>
nicht-theologischen Dichter nicht suchen. Die &#x03C8;&#x03C5;&#x03C7;&#x03AE; des Todten ein<lb/>
Schatten ohne Lebenssaft: <hi rendition="#i">fr.</hi> 229. Der Tod eine Zuflucht vor irdischem<lb/>
Leid: <hi rendition="#i">fr.</hi> 353. Der schnelle Tod, den der Chor sich wünscht, <hi rendition="#i">Agam.</hi> 1449 ff.<lb/>
bringt &#x03C4;&#x1F78;&#x03BD; &#x1F00;&#x03B5;&#x1F76; &#x1F00;&#x03C4;&#x03AD;&#x03BB;&#x03B5;&#x03C5;&#x03C4;&#x03BF;&#x03BD; &#x1F55;&#x03C0;&#x03BD;&#x03BF;&#x03BD;, also einen Zustand der Bewusstlosigkeit,<lb/>
wenn nicht völliger Nichtigkeit. &#x2014; Der Schatten des Darius nimmt von<lb/>
den persischen Grossen Abschied mit den Worten: &#x1F51;&#x03BC;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03C2; &#x03B4;&#x1F72;, &#x03C0;&#x03C1;&#x03AD;&#x03C3;&#x03B2;&#x03B5;&#x03B9;&#x03C2;,<lb/>
&#x03C7;&#x03B1;&#x03AF;&#x03C1;&#x03B5;&#x03C4;&#x0315;, &#x1F10;&#x03BD; &#x03BA;&#x03B1;&#x03BA;&#x03BF;&#x1FD6;&#x03C2; &#x1F45;&#x03BC;&#x03C9;&#x03C2; &#x03C8;&#x03C5;&#x03C7;&#x1F74;&#x03BD; &#x03B4;&#x03B9;&#x03B4;&#x03CC;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C2; &#x1F21;&#x03B4;&#x03BF;&#x03BD;&#x1FC7; &#x03BA;&#x03B1;&#x03D1;&#x0315; &#x1F21;&#x03BC;&#x03AD;&#x03C1;&#x03B1;&#x03BD;, &#x1F61;&#x03C2; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FD6;&#x03C2; &#x03D1;&#x03B1;&#x03BD;&#x03BF;&#x1FE6;&#x03C3;&#x03B9;<lb/>
&#x03C0;&#x03BB;&#x03BF;&#x1FE6;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C2; &#x03BF;&#x1F50;&#x03B4;&#x1F72;&#x03BD; &#x1F60;&#x03C6;&#x03B5;&#x03BB;&#x03B5;&#x1FD6; (<hi rendition="#i">Pers.</hi> 840 ff.). Diese Lebensauffassung soll vermuth-<lb/>
lich orientalische Färbung tragen (wie jene Grabschrift des Sardanapal,<lb/>
deren man sich hiebei mit Recht erinnert), die Begründung: &#x1F61;&#x03C2; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FD6;&#x03C2;<lb/>
&#x03D1;&#x03B1;&#x03BD;&#x03BF;&#x1FE6;&#x03C3;&#x03B9; &#x2014; wohl desgleichen.</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[525/0541] dem Seelencult wurzelnden, auf das Verhältniss der abgeschie- denen Seelen zu der Welt der Erdenbewohner bezüglichen Ge- danken höchst lebendig gegenwärtig sind, hat auf die Art und Zustände der Verstorbenen in ihrer jenseitigen Abgeschieden- heit den Blick nicht anhaltend richten wollen. Die Versitt- lichung und Vertiefung alten Volksglaubens, die er sich ange- legen sein liess, erwächst ihm doch völlig aus dem Boden dieses Volksglaubens selbst, nicht anders als die streng erhabene Gottesidee, die im Hintergrunde seines Weltbildes steht. In dieser Generation der Männer, die bei Marathon gekämpft hatten, bedurfte ein tiefer, ja herber Ernst der Betrachtung von Welt und Schicksal noch kaum der Unterstützung durch theologische Sectenmeinungen, die aus den Härten und Dunkel- heiten dieser ungenügenden Wirklichkeit sich nur durch die Flucht der Gedanken in ein geahntes Jenseits zu retten ver- mochten. 5. Zu den Grundproblemen einer Philosophie des Dramas, den dunklen Fragen nach Freiheit und Gebundenheit des Wil- lens, Schuld und Schicksal des Menschen, hat Sophokles eine wesentlich andere Stellung als sein grosser Vorgänger. Reifere, gelassener sich hingebende Beobachtung des Lebens und seiner Irrgänge macht ihm einfache, schematische Auf- lösungen der Verwicklungen weniger leicht, lässt ihn andere und mannichfaltigere Wege des Verständnisses aufsuchen. Der 3) 3) voraussetzen. Consequenz in diesen Dingen darf man eben bei einem nicht-theologischen Dichter nicht suchen. Die ψυχή des Todten ein Schatten ohne Lebenssaft: fr. 229. Der Tod eine Zuflucht vor irdischem Leid: fr. 353. Der schnelle Tod, den der Chor sich wünscht, Agam. 1449 ff. bringt τὸν ἀεὶ ἀτέλευτον ὕπνον, also einen Zustand der Bewusstlosigkeit, wenn nicht völliger Nichtigkeit. — Der Schatten des Darius nimmt von den persischen Grossen Abschied mit den Worten: ὑμεῖς δὲ, πρέσβεις, χαίρετ̕, ἐν κακοῖς ὅμως ψυχὴν διδόντες ἡδονῇ καϑ̕ ἡμέραν, ὡς τοῖς ϑανοῦσι πλοῦτος οὐδὲν ὠφελεῖ (Pers. 840 ff.). Diese Lebensauffassung soll vermuth- lich orientalische Färbung tragen (wie jene Grabschrift des Sardanapal, deren man sich hiebei mit Recht erinnert), die Begründung: ὡς τοῖς ϑανοῦσι — wohl desgleichen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/541
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/541>, abgerufen am 03.12.2024.