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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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im vielgestaltigen Griechenland, aber doch gewiss in den
ionischen Städten der kleinasiatischen Küste und Inselwelt,
in denen Dichter und Dichtung zu Hause sind. Mit ähnlicher
Einschränkung darf man in den Bildern der äusseren Cultur-
verhältnisse, wie sie Ilias und Odyssee zeigen, ein Abbild des
damaligen griechischen, speciell des ionischen Lebens erkennen.
Dieses Leben muss sich in vielen Beziehungen von der "myke-
näischen Cultur" unterschieden haben. Man kann nicht im
Zweifel darüber sein, dass die Gründe für diesen Unterschied
zu suchen sind in den langanhaltenden Bewegungen der Jahr-
hunderte, die Homer von jener mykenäischen Periode trennen,
insbesondere der griechischen Völkerwanderung, in dem was sie
zerstörte und was sie neu schuf. Der gewaltsame Einbruch
nordgriechischer Stämme in Mittelgriechenland und den Pelo-
ponnes, die Zerstörung der alten Reiche und ihrer Cultur-
bedingungen, die Neubegründung dorischer Staaten auf Grund
des Eroberungsrechtes, die grosse Auswanderung nach den
asiatischen Küsten und Begründung eines neuen Lebens auf
fremdem Boden -- diese Umwälzung aller Lebensverhältnisse
musste den gesammten Bildungszustand in heftiges Schwanken
bringen. Sehen wir nun, dass der Seelencult und ohne Zweifel
auch die diesen Cult bestimmenden Vorstellungen vom Schicksal
der abgeschiedenen Seelen in den ionischen Ländern, deren
Glauben die homerischen Gedichte wiederspiegeln, nicht mehr
dieselben geblieben sind, wie einst in der Blüthezeit der "myke-
näischen Cultur", so darf man wohl fragen, ob nicht auch zu
dieser Veränderung, wie zu anderen, die Kämpfe und Wan-
derungen der Zwischenzeit einigen Anlass gegeben haben. Der
freie, über die Grenzen des Götterkreises und Göttercultes der
Stadt, ja des Stammes weit hinaus dringende Blick des Homer
wäre doch schwerlich denkbar ohne die freiere Bewegung
ausserhalb der alten Landesgrenzen, die Berührung mit Genossen
anderer Stämme, die Erweiterung der Kenntniss fremder Zu-
stände auf allen Gebieten, wie sie die Völkerverschiebungen
und Wanderungen mit sich gebracht haben müssen. Haben

im vielgestaltigen Griechenland, aber doch gewiss in den
ionischen Städten der kleinasiatischen Küste und Inselwelt,
in denen Dichter und Dichtung zu Hause sind. Mit ähnlicher
Einschränkung darf man in den Bildern der äusseren Cultur-
verhältnisse, wie sie Ilias und Odyssee zeigen, ein Abbild des
damaligen griechischen, speciell des ionischen Lebens erkennen.
Dieses Leben muss sich in vielen Beziehungen von der „myke-
näischen Cultur“ unterschieden haben. Man kann nicht im
Zweifel darüber sein, dass die Gründe für diesen Unterschied
zu suchen sind in den langanhaltenden Bewegungen der Jahr-
hunderte, die Homer von jener mykenäischen Periode trennen,
insbesondere der griechischen Völkerwanderung, in dem was sie
zerstörte und was sie neu schuf. Der gewaltsame Einbruch
nordgriechischer Stämme in Mittelgriechenland und den Pelo-
ponnes, die Zerstörung der alten Reiche und ihrer Cultur-
bedingungen, die Neubegründung dorischer Staaten auf Grund
des Eroberungsrechtes, die grosse Auswanderung nach den
asiatischen Küsten und Begründung eines neuen Lebens auf
fremdem Boden — diese Umwälzung aller Lebensverhältnisse
musste den gesammten Bildungszustand in heftiges Schwanken
bringen. Sehen wir nun, dass der Seelencult und ohne Zweifel
auch die diesen Cult bestimmenden Vorstellungen vom Schicksal
der abgeschiedenen Seelen in den ionischen Ländern, deren
Glauben die homerischen Gedichte wiederspiegeln, nicht mehr
dieselben geblieben sind, wie einst in der Blüthezeit der „myke-
näischen Cultur“, so darf man wohl fragen, ob nicht auch zu
dieser Veränderung, wie zu anderen, die Kämpfe und Wan-
derungen der Zwischenzeit einigen Anlass gegeben haben. Der
freie, über die Grenzen des Götterkreises und Göttercultes der
Stadt, ja des Stammes weit hinaus dringende Blick des Homer
wäre doch schwerlich denkbar ohne die freiere Bewegung
ausserhalb der alten Landesgrenzen, die Berührung mit Genossen
anderer Stämme, die Erweiterung der Kenntniss fremder Zu-
stände auf allen Gebieten, wie sie die Völkerverschiebungen
und Wanderungen mit sich gebracht haben müssen. Haben

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[38/0054] im vielgestaltigen Griechenland, aber doch gewiss in den ionischen Städten der kleinasiatischen Küste und Inselwelt, in denen Dichter und Dichtung zu Hause sind. Mit ähnlicher Einschränkung darf man in den Bildern der äusseren Cultur- verhältnisse, wie sie Ilias und Odyssee zeigen, ein Abbild des damaligen griechischen, speciell des ionischen Lebens erkennen. Dieses Leben muss sich in vielen Beziehungen von der „myke- näischen Cultur“ unterschieden haben. Man kann nicht im Zweifel darüber sein, dass die Gründe für diesen Unterschied zu suchen sind in den langanhaltenden Bewegungen der Jahr- hunderte, die Homer von jener mykenäischen Periode trennen, insbesondere der griechischen Völkerwanderung, in dem was sie zerstörte und was sie neu schuf. Der gewaltsame Einbruch nordgriechischer Stämme in Mittelgriechenland und den Pelo- ponnes, die Zerstörung der alten Reiche und ihrer Cultur- bedingungen, die Neubegründung dorischer Staaten auf Grund des Eroberungsrechtes, die grosse Auswanderung nach den asiatischen Küsten und Begründung eines neuen Lebens auf fremdem Boden — diese Umwälzung aller Lebensverhältnisse musste den gesammten Bildungszustand in heftiges Schwanken bringen. Sehen wir nun, dass der Seelencult und ohne Zweifel auch die diesen Cult bestimmenden Vorstellungen vom Schicksal der abgeschiedenen Seelen in den ionischen Ländern, deren Glauben die homerischen Gedichte wiederspiegeln, nicht mehr dieselben geblieben sind, wie einst in der Blüthezeit der „myke- näischen Cultur“, so darf man wohl fragen, ob nicht auch zu dieser Veränderung, wie zu anderen, die Kämpfe und Wan- derungen der Zwischenzeit einigen Anlass gegeben haben. Der freie, über die Grenzen des Götterkreises und Göttercultes der Stadt, ja des Stammes weit hinaus dringende Blick des Homer wäre doch schwerlich denkbar ohne die freiere Bewegung ausserhalb der alten Landesgrenzen, die Berührung mit Genossen anderer Stämme, die Erweiterung der Kenntniss fremder Zu- stände auf allen Gebieten, wie sie die Völkerverschiebungen und Wanderungen mit sich gebracht haben müssen. Haben

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/54>, abgerufen am 22.11.2024.