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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Gerechtigkeit, mit "gerechtem Trug"1), damit das Maass des
Frevels voll werde, und die göttliche Strafgerechtigkeit eine
Handhabe finde zu voller Befriedigung. Der böse Geist des
Hauses half der Klytaemnestra, den Gedanken des Gatten-
mordes zu fassen2); die Gottheit selbst mahnt und zwingt den
Orest zum Muttermorde, den er in vollbewusstem Entschlusse
vorbereitet und ausführt, -- einen Frevel, der zugleich eine
Pflicht ist. Denn dem Dichter sind die uralten Gedanken der
Blutrachepflicht noch voll lebendig. Das Recht der Seelen auf
Cult und Verehrung, ihr Anspruch auf Rache, wenn sie ge-
waltsam aus dem Leben gedrängt sind, ihr geisterhaftes
Herüberwirken aus dem Dunkel in das Leben und Schicksal
ihrer Nächstverwandten, denen die Rachepflicht aufliegt: --
dies alles sind ihm nicht überwundene Einbildungen der Vor-
zeit, sondern furchtbar reale Thatsachen3). Ganze Dramen,

dem einzelnen Falle Ausdruck geben, sehr oft wieder: bei Theognis,
Herodot, besonders auch bei Euripides (vgl. Fr. Trag. adesp. 455), den
Rednern. S. Nägelsbach Nachhom. Theol. 54 ff.; 332 f. 378.
1) apates dikaias ouk apostatei theos fr. 301. Und so sind auch
die weniger deutlich den gerechten Zweck des göttlichen Trugs hervor-
hebenden anderen Aussagen des Dichters zu verstehen: Pers. 93 ff. 742;
fr. 156; 302. (Vgl. auch Suppl. 403 f.) -- Ganz in Aeschyleischem Sinne
lässt Aristophanes seine Wolken reden, Nub. 1458 ff. Diese herbe Vor-
stellung muss doch wohl von der Bühne aus eine gewisse Verbreitung
gefunden haben. Lüge und Trug zu gerechtem Zweck waren (selbst für
ihre Götter) den Griechen nichts Anstössiges: daher Sokrates (bei Xeno-
phon), Plato, einige Stoiker ganz unbefangen Lügen dieser Art billigen
und empfehlen konnten (auf die Aeschyleischen Verse beruft sich, die
gleiche Theorie verfechtend, der Verfasser der Dialexeis, cap. 3).
2) Agam. 1497--1507. Hier deutliche Gegenüberstellung der volks-
thümlichen Vorstellung, die alle Schuld auf den zur Unthat verlocken-
den alastor schiebt (hiervon noch ein Nachklang bei Sophocl. El.
197 ff.), und der geläuterten Ansicht des Dichters, die trotz der Mit-
hilfe des alastor daran festhält, dass der Thäter des Frevels nicht
anaitios sei.
3) Der Todte des Cults seiner noch lebenden Angehörigen bedürftig:
Choeph. 484 f. (sein Grab ein bomos: Cho. 106; khoai gamelioi für ihn: 486 f).
Als Besänftigung seines leicht erregten Zornes khoai nerteron meiligmata:
Cho. 15. Der Todte hat noch Bewusstsein von dem was auf der Ober-
welt geschehen ist und geschieht: phronema tou thanontos ou damazei puros

Gerechtigkeit, mit „gerechtem Trug“1), damit das Maass des
Frevels voll werde, und die göttliche Strafgerechtigkeit eine
Handhabe finde zu voller Befriedigung. Der böse Geist des
Hauses half der Klytaemnestra, den Gedanken des Gatten-
mordes zu fassen2); die Gottheit selbst mahnt und zwingt den
Orest zum Muttermorde, den er in vollbewusstem Entschlusse
vorbereitet und ausführt, — einen Frevel, der zugleich eine
Pflicht ist. Denn dem Dichter sind die uralten Gedanken der
Blutrachepflicht noch voll lebendig. Das Recht der Seelen auf
Cult und Verehrung, ihr Anspruch auf Rache, wenn sie ge-
waltsam aus dem Leben gedrängt sind, ihr geisterhaftes
Herüberwirken aus dem Dunkel in das Leben und Schicksal
ihrer Nächstverwandten, denen die Rachepflicht aufliegt: —
dies alles sind ihm nicht überwundene Einbildungen der Vor-
zeit, sondern furchtbar reale Thatsachen3). Ganze Dramen,

dem einzelnen Falle Ausdruck geben, sehr oft wieder: bei Theognis,
Herodot, besonders auch bei Euripides (vgl. Fr. Trag. adesp. 455), den
Rednern. S. Nägelsbach Nachhom. Theol. 54 ff.; 332 f. 378.
1) ἀπάτης δικαίας οὐκ ἀποστατεῖ ϑεός fr. 301. Und so sind auch
die weniger deutlich den gerechten Zweck des göttlichen Trugs hervor-
hebenden anderen Aussagen des Dichters zu verstehen: Pers. 93 ff. 742;
fr. 156; 302. (Vgl. auch Suppl. 403 f.) — Ganz in Aeschyleischem Sinne
lässt Aristophanes seine Wolken reden, Nub. 1458 ff. Diese herbe Vor-
stellung muss doch wohl von der Bühne aus eine gewisse Verbreitung
gefunden haben. Lüge und Trug zu gerechtem Zweck waren (selbst für
ihre Götter) den Griechen nichts Anstössiges: daher Sokrates (bei Xeno-
phon), Plato, einige Stoiker ganz unbefangen Lügen dieser Art billigen
und empfehlen konnten (auf die Aeschyleischen Verse beruft sich, die
gleiche Theorie verfechtend, der Verfasser der Διαλέξεις, cap. 3).
2) Agam. 1497—1507. Hier deutliche Gegenüberstellung der volks-
thümlichen Vorstellung, die alle Schuld auf den zur Unthat verlocken-
den ἀλάστωρ schiebt (hiervon noch ein Nachklang bei Sophocl. El.
197 ff.), und der geläuterten Ansicht des Dichters, die trotz der Mit-
hilfe des ἀλάστωρ daran festhält, dass der Thäter des Frevels nicht
ἀναίτιος sei.
3) Der Todte des Cults seiner noch lebenden Angehörigen bedürftig:
Choëph. 484 f. (sein Grab ein βωμός: Cho. 106; χοαὶ γαμήλιοι für ihn: 486 f).
Als Besänftigung seines leicht erregten Zornes χοαὶ νερτέρων μειλίγματα:
Cho. 15. Der Todte hat noch Bewusstsein von dem was auf der Ober-
welt geschehen ist und geschieht: φρόνημα τοῦ ϑανόντος οὐ δαμάζει πυρὸς
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[522/0538] Gerechtigkeit, mit „gerechtem Trug“ 1), damit das Maass des Frevels voll werde, und die göttliche Strafgerechtigkeit eine Handhabe finde zu voller Befriedigung. Der böse Geist des Hauses half der Klytaemnestra, den Gedanken des Gatten- mordes zu fassen 2); die Gottheit selbst mahnt und zwingt den Orest zum Muttermorde, den er in vollbewusstem Entschlusse vorbereitet und ausführt, — einen Frevel, der zugleich eine Pflicht ist. Denn dem Dichter sind die uralten Gedanken der Blutrachepflicht noch voll lebendig. Das Recht der Seelen auf Cult und Verehrung, ihr Anspruch auf Rache, wenn sie ge- waltsam aus dem Leben gedrängt sind, ihr geisterhaftes Herüberwirken aus dem Dunkel in das Leben und Schicksal ihrer Nächstverwandten, denen die Rachepflicht aufliegt: — dies alles sind ihm nicht überwundene Einbildungen der Vor- zeit, sondern furchtbar reale Thatsachen 3). Ganze Dramen, 5) 1) ἀπάτης δικαίας οὐκ ἀποστατεῖ ϑεός fr. 301. Und so sind auch die weniger deutlich den gerechten Zweck des göttlichen Trugs hervor- hebenden anderen Aussagen des Dichters zu verstehen: Pers. 93 ff. 742; fr. 156; 302. (Vgl. auch Suppl. 403 f.) — Ganz in Aeschyleischem Sinne lässt Aristophanes seine Wolken reden, Nub. 1458 ff. Diese herbe Vor- stellung muss doch wohl von der Bühne aus eine gewisse Verbreitung gefunden haben. Lüge und Trug zu gerechtem Zweck waren (selbst für ihre Götter) den Griechen nichts Anstössiges: daher Sokrates (bei Xeno- phon), Plato, einige Stoiker ganz unbefangen Lügen dieser Art billigen und empfehlen konnten (auf die Aeschyleischen Verse beruft sich, die gleiche Theorie verfechtend, der Verfasser der Διαλέξεις, cap. 3). 2) Agam. 1497—1507. Hier deutliche Gegenüberstellung der volks- thümlichen Vorstellung, die alle Schuld auf den zur Unthat verlocken- den ἀλάστωρ schiebt (hiervon noch ein Nachklang bei Sophocl. El. 197 ff.), und der geläuterten Ansicht des Dichters, die trotz der Mit- hilfe des ἀλάστωρ daran festhält, dass der Thäter des Frevels nicht ἀναίτιος sei. 3) Der Todte des Cults seiner noch lebenden Angehörigen bedürftig: Choëph. 484 f. (sein Grab ein βωμός: Cho. 106; χοαὶ γαμήλιοι für ihn: 486 f). Als Besänftigung seines leicht erregten Zornes χοαὶ νερτέρων μειλίγματα: Cho. 15. Der Todte hat noch Bewusstsein von dem was auf der Ober- welt geschehen ist und geschieht: φρόνημα τοῦ ϑανόντος οὐ δαμάζει πυρὸς 5) dem einzelnen Falle Ausdruck geben, sehr oft wieder: bei Theognis, Herodot, besonders auch bei Euripides (vgl. Fr. Trag. adesp. 455), den Rednern. S. Nägelsbach Nachhom. Theol. 54 ff.; 332 f. 378.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/538>, abgerufen am 22.11.2024.