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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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nur die Bindung der Gegensätze zum Einklang und zur Ein-
heit ist, so wird sie mit der Lösung der zusammengebundenen
Elemente, im Tode, verschwunden und vergangen sein 1). Es
ist schwer verständlich, wie mit dieser Vorstellung der alt-
pythagoreische Glaubenssatz von der als selbständiges Wesen
im Leibe wohnenden und diesen überdauernden, ja ewig leben-
den Seele vereinigt werden konnte. Waren die zwei Vorstel-
lungen ursprünglich gar nicht bestimmt, mit einander vereinigt
zu werden, aber auch nicht, sich auszuschliessen? Alte Ueber-
lieferungen reden von geschiedenen Classen der Anhänger des
Pythagoras, die auch verschiedene Gegenstände, Weisen und
Ziele der Betrachtung hatten; und man kann geneigt sein,
diesen Ueberlieferungen nicht allen Glauben zu versagen, wenn
man beachtet, wie wenig in der That pythagoreische Wissen-
schaft und pythagoreischer Glaube zusammen hängen 2).

de statu animae, 2. 7 giebt freilich dem Philolaos nur die Lehre, dass die
Seele mit dem Körper nach "ewiger und unkörperlicher Harmonie"
(convenientiam) verbunden sei; wobei eine selbständige Substanz der
Seele neben der des Körpers vorausgesetzt wäre. Das wird aber Miss-
verständniss der wahren Meinung des Phil. sein. Nur von seinen pytha-
goreischen Freunden mag doch auch Aristoxenos seine Lehre von der
Seele als Harmonie übernommen haben, vielleicht ist durch solche auch
Dikäarch angeregt, wenn er die "Seele" eine armonia ton tessaron stoi-
kheion nennt (Doxogr. p. 387), und zwar ton en to somati thermon kai
psukhron kai ugron kai xeron, nach Nemes. nat. hom. p. 69 Math., ganz
wie Simmias bei Plato (wenn nicht etwa dem Nem. hier eine Reminis-
cenz aus Plato irrig untergelaufen ist). -- Vgl. auch oben p. 448f. Anm.
1) S. Plat. Phaed. 86 C. D. Praeexistenz der Seele unmöglich, wenn
sie nur armonia des Leibes ist: ebendas. 92 A. B.
2) Es war an und für sich fast unvermeidlich, dass eine, auf mysti-
schen Grundlehren errichtete, zugleich aber wissenschaftlichen Bestre-
bungen nicht fremde Gemeinde, wenn sie, wie die Pythagoreische, sich
weit und weiter ausdehnte (und praktische Zwecke verfolgte) sich in einen
engeren Kern der Wissenden und Befähigten, und einen oder mehrere
darum gelagerte Kreise von Laiengenossen, denen eine eigene, allgemei-
nerem Verständniss zugängliche Lehre zukam, zerlegte. So umgab im
Buddhismus den engen Kreis der Bikschu die Menge der "Verehrer",
und ähnlich in christlichen Mönchsgenossenschaften. Eine Scheidung der
Anhänger des Pythagoras in Akusmatiker und Mathematiker (Pythago-

nur die Bindung der Gegensätze zum Einklang und zur Ein-
heit ist, so wird sie mit der Lösung der zusammengebundenen
Elemente, im Tode, verschwunden und vergangen sein 1). Es
ist schwer verständlich, wie mit dieser Vorstellung der alt-
pythagoreische Glaubenssatz von der als selbständiges Wesen
im Leibe wohnenden und diesen überdauernden, ja ewig leben-
den Seele vereinigt werden konnte. Waren die zwei Vorstel-
lungen ursprünglich gar nicht bestimmt, mit einander vereinigt
zu werden, aber auch nicht, sich auszuschliessen? Alte Ueber-
lieferungen reden von geschiedenen Classen der Anhänger des
Pythagoras, die auch verschiedene Gegenstände, Weisen und
Ziele der Betrachtung hatten; und man kann geneigt sein,
diesen Ueberlieferungen nicht allen Glauben zu versagen, wenn
man beachtet, wie wenig in der That pythagoreische Wissen-
schaft und pythagoreischer Glaube zusammen hängen 2).

de statu animae, 2. 7 giebt freilich dem Philolaos nur die Lehre, dass die
Seele mit dem Körper nach „ewiger und unkörperlicher Harmonie“
(convenientiam) verbunden sei; wobei eine selbständige Substanz der
Seele neben der des Körpers vorausgesetzt wäre. Das wird aber Miss-
verständniss der wahren Meinung des Phil. sein. Nur von seinen pytha-
goreischen Freunden mag doch auch Aristoxenos seine Lehre von der
Seele als Harmonie übernommen haben, vielleicht ist durch solche auch
Dikäarch angeregt, wenn er die „Seele“ eine ἁρμονία τῶν τεσσάρων στοι-
χείων nennt (Doxogr. p. 387), und zwar τῶν ἐν τῷ σώματι ϑερμῶν καὶ
ψυχρῶν καὶ ὑγρῶν καὶ ξηρῶν, nach Nemes. nat. hom. p. 69 Math., ganz
wie Simmias bei Plato (wenn nicht etwa dem Nem. hier eine Reminis-
cenz aus Plato irrig untergelaufen ist). — Vgl. auch oben p. 448f. Anm.
1) S. Plat. Phaed. 86 C. D. Praeexistenz der Seele unmöglich, wenn
sie nur ἁρμονία des Leibes ist: ebendas. 92 A. B.
2) Es war an und für sich fast unvermeidlich, dass eine, auf mysti-
schen Grundlehren errichtete, zugleich aber wissenschaftlichen Bestre-
bungen nicht fremde Gemeinde, wenn sie, wie die Pythagoreische, sich
weit und weiter ausdehnte (und praktische Zwecke verfolgte) sich in einen
engeren Kern der Wissenden und Befähigten, und einen oder mehrere
darum gelagerte Kreise von Laiengenossen, denen eine eigene, allgemei-
nerem Verständniss zugängliche Lehre zukam, zerlegte. So umgab im
Buddhismus den engen Kreis der Bikschu die Menge der „Verehrer“,
und ähnlich in christlichen Mönchsgenossenschaften. Eine Scheidung der
Anhänger des Pythagoras in Akusmatiker und Mathematiker (Pythago-
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[463/0479] nur die Bindung der Gegensätze zum Einklang und zur Ein- heit ist, so wird sie mit der Lösung der zusammengebundenen Elemente, im Tode, verschwunden und vergangen sein 1). Es ist schwer verständlich, wie mit dieser Vorstellung der alt- pythagoreische Glaubenssatz von der als selbständiges Wesen im Leibe wohnenden und diesen überdauernden, ja ewig leben- den Seele vereinigt werden konnte. Waren die zwei Vorstel- lungen ursprünglich gar nicht bestimmt, mit einander vereinigt zu werden, aber auch nicht, sich auszuschliessen? Alte Ueber- lieferungen reden von geschiedenen Classen der Anhänger des Pythagoras, die auch verschiedene Gegenstände, Weisen und Ziele der Betrachtung hatten; und man kann geneigt sein, diesen Ueberlieferungen nicht allen Glauben zu versagen, wenn man beachtet, wie wenig in der That pythagoreische Wissen- schaft und pythagoreischer Glaube zusammen hängen 2). 1) 1) S. Plat. Phaed. 86 C. D. Praeexistenz der Seele unmöglich, wenn sie nur ἁρμονία des Leibes ist: ebendas. 92 A. B. 2) Es war an und für sich fast unvermeidlich, dass eine, auf mysti- schen Grundlehren errichtete, zugleich aber wissenschaftlichen Bestre- bungen nicht fremde Gemeinde, wenn sie, wie die Pythagoreische, sich weit und weiter ausdehnte (und praktische Zwecke verfolgte) sich in einen engeren Kern der Wissenden und Befähigten, und einen oder mehrere darum gelagerte Kreise von Laiengenossen, denen eine eigene, allgemei- nerem Verständniss zugängliche Lehre zukam, zerlegte. So umgab im Buddhismus den engen Kreis der Bikschu die Menge der „Verehrer“, und ähnlich in christlichen Mönchsgenossenschaften. Eine Scheidung der Anhänger des Pythagoras in Akusmatiker und Mathematiker (Pythago- 1) de statu animae, 2. 7 giebt freilich dem Philolaos nur die Lehre, dass die Seele mit dem Körper nach „ewiger und unkörperlicher Harmonie“ (convenientiam) verbunden sei; wobei eine selbständige Substanz der Seele neben der des Körpers vorausgesetzt wäre. Das wird aber Miss- verständniss der wahren Meinung des Phil. sein. Nur von seinen pytha- goreischen Freunden mag doch auch Aristoxenos seine Lehre von der Seele als Harmonie übernommen haben, vielleicht ist durch solche auch Dikäarch angeregt, wenn er die „Seele“ eine ἁρμονία τῶν τεσσάρων στοι- χείων nennt (Doxogr. p. 387), und zwar τῶν ἐν τῷ σώματι ϑερμῶν καὶ ψυχρῶν καὶ ὑγρῶν καὶ ξηρῶν, nach Nemes. nat. hom. p. 69 Math., ganz wie Simmias bei Plato (wenn nicht etwa dem Nem. hier eine Reminis- cenz aus Plato irrig untergelaufen ist). — Vgl. auch oben p. 448f. Anm.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/479>, abgerufen am 16.06.2024.