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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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und Bilden in der Welt der Vielheit. Nicht anders können
die physiologischen Meinungen verstanden werden, die selbst
Zeno von Elea, der verwegenste dialektische Vorkämpfer der
Lehre vom unbewegten AllEinen, vorbrachte. Im Zusam-
menhang solcher Physiologie, aber auch unter dem gleichen
Vorbehalt, unter dem diese vorgetragen wurde, haben die ele-
atischen Philosophen von Wesen und Herkunft der Seele ge-
redet. Und wie sie ihre Physik ganz nach dem Vorbilde
älterer Naturphilosophie ausgestalten, so sehen sie auch das
Verhältniss des Seelischen zum Körperlichen ganz aus dem
Standpunkte dieser ihrer Vorgänger an. Dem Parmenides
(v. 146 ff. Mull.) ist der Geist (noos) des Menschen abhängig
von der Mischung der zwei Bestandtheile, aus denen alles,
und auch sein Leib, sich zusammensetzt, dem "Licht" und
der "Nacht" (dem Warmen und Kalten, Feuer und Erde).
Denn das was geistig thätig ist, ist eben für den Menschen
die "Natur seiner Glieder"; die Art der Gedanken wird be-
stimmt durch den in dem einzelnen Menschen überwiegenden
der zwei Grundbestandtheile. Selbst der Todte hat noch (wie
er noch einen Leib hat) Empfindung und Wahrnehmung, aber,
verlassen von dem Warmen und Feurigen, nur noch des Kalten,
des Dunklen und des "Schweigens". Alles Seiende hat einige
Erkenntnissfähigkeit 1). Man kann nicht völliger die "Seele"
in die Leiblichkeit verstricken, als hier der kühne Vernunft-
denker thut, der doch die Wahrnehmung durch die Sinne des
Leibes so bedingungslos verwarf. Die "Seele" ist ihm hier
offenbar nicht mehr eine eigene Substanz, sondern nur ein
Ergebniss materieller Mischung, ein Thätigkeitszustand der ver-
bundenen Elemente. Nicht anders dem Zeno, dem "Seele"
eine gleichmässige Mischung aus den vier Grundeigenschaften
der Stoffe, dem Warmen, Kalten, Trockenen und Feuchten
hiess 2).

1) Theophrast. de sens. et sensib. § 4.
2) gegenesthai ten ton panton phusin ek thermou kai psukhrou kai xerou
kai ugrou, lambanonton eis allela ten metabolen, kai psukhen krama uparkhein

und Bilden in der Welt der Vielheit. Nicht anders können
die physiologischen Meinungen verstanden werden, die selbst
Zeno von Elea, der verwegenste dialektische Vorkämpfer der
Lehre vom unbewegten AllEinen, vorbrachte. Im Zusam-
menhang solcher Physiologie, aber auch unter dem gleichen
Vorbehalt, unter dem diese vorgetragen wurde, haben die ele-
atischen Philosophen von Wesen und Herkunft der Seele ge-
redet. Und wie sie ihre Physik ganz nach dem Vorbilde
älterer Naturphilosophie ausgestalten, so sehen sie auch das
Verhältniss des Seelischen zum Körperlichen ganz aus dem
Standpunkte dieser ihrer Vorgänger an. Dem Parmenides
(v. 146 ff. Mull.) ist der Geist (νόος) des Menschen abhängig
von der Mischung der zwei Bestandtheile, aus denen alles,
und auch sein Leib, sich zusammensetzt, dem „Licht“ und
der „Nacht“ (dem Warmen und Kalten, Feuer und Erde).
Denn das was geistig thätig ist, ist eben für den Menschen
die „Natur seiner Glieder“; die Art der Gedanken wird be-
stimmt durch den in dem einzelnen Menschen überwiegenden
der zwei Grundbestandtheile. Selbst der Todte hat noch (wie
er noch einen Leib hat) Empfindung und Wahrnehmung, aber,
verlassen von dem Warmen und Feurigen, nur noch des Kalten,
des Dunklen und des „Schweigens“. Alles Seiende hat einige
Erkenntnissfähigkeit 1). Man kann nicht völliger die „Seele“
in die Leiblichkeit verstricken, als hier der kühne Vernunft-
denker thut, der doch die Wahrnehmung durch die Sinne des
Leibes so bedingungslos verwarf. Die „Seele“ ist ihm hier
offenbar nicht mehr eine eigene Substanz, sondern nur ein
Ergebniss materieller Mischung, ein Thätigkeitszustand der ver-
bundenen Elemente. Nicht anders dem Zeno, dem „Seele“
eine gleichmässige Mischung aus den vier Grundeigenschaften
der Stoffe, dem Warmen, Kalten, Trockenen und Feuchten
hiess 2).

1) Theophrast. de sens. et sensib. § 4.
2) γεγενῆσϑαι τὴν τῶν πάντων φύσιν ἐκ ϑερμοῦ καὶ ψυχροῦ καὶ ξηροῦ
καὶ ὑγροῦ, λαμβανόντων εἰς ἄλληλα τὴν μεταβολήν, καὶ ψυχὴν κρᾶμα ὑπάρχειν
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[448/0464] und Bilden in der Welt der Vielheit. Nicht anders können die physiologischen Meinungen verstanden werden, die selbst Zeno von Elea, der verwegenste dialektische Vorkämpfer der Lehre vom unbewegten AllEinen, vorbrachte. Im Zusam- menhang solcher Physiologie, aber auch unter dem gleichen Vorbehalt, unter dem diese vorgetragen wurde, haben die ele- atischen Philosophen von Wesen und Herkunft der Seele ge- redet. Und wie sie ihre Physik ganz nach dem Vorbilde älterer Naturphilosophie ausgestalten, so sehen sie auch das Verhältniss des Seelischen zum Körperlichen ganz aus dem Standpunkte dieser ihrer Vorgänger an. Dem Parmenides (v. 146 ff. Mull.) ist der Geist (νόος) des Menschen abhängig von der Mischung der zwei Bestandtheile, aus denen alles, und auch sein Leib, sich zusammensetzt, dem „Licht“ und der „Nacht“ (dem Warmen und Kalten, Feuer und Erde). Denn das was geistig thätig ist, ist eben für den Menschen die „Natur seiner Glieder“; die Art der Gedanken wird be- stimmt durch den in dem einzelnen Menschen überwiegenden der zwei Grundbestandtheile. Selbst der Todte hat noch (wie er noch einen Leib hat) Empfindung und Wahrnehmung, aber, verlassen von dem Warmen und Feurigen, nur noch des Kalten, des Dunklen und des „Schweigens“. Alles Seiende hat einige Erkenntnissfähigkeit 1). Man kann nicht völliger die „Seele“ in die Leiblichkeit verstricken, als hier der kühne Vernunft- denker thut, der doch die Wahrnehmung durch die Sinne des Leibes so bedingungslos verwarf. Die „Seele“ ist ihm hier offenbar nicht mehr eine eigene Substanz, sondern nur ein Ergebniss materieller Mischung, ein Thätigkeitszustand der ver- bundenen Elemente. Nicht anders dem Zeno, dem „Seele“ eine gleichmässige Mischung aus den vier Grundeigenschaften der Stoffe, dem Warmen, Kalten, Trockenen und Feuchten hiess 2). 1) Theophrast. de sens. et sensib. § 4. 2) γεγενῆσϑαι τὴν τῶν πάντων φύσιν ἐκ ϑερμοῦ καὶ ψυχροῦ καὶ ξηροῦ καὶ ὑγροῦ, λαμβανόντων εἰς ἄλληλα τὴν μεταβολήν, καὶ ψυχὴν κρᾶμα ὑπάρχειν

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/464>, abgerufen am 22.11.2024.