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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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der Ueberlieferung nicht nur als gottbegeisterter Sänger, son-
dern auch als Seher, zauberhaft wirkender Arzt und Reini-
gungspriester erscheint 1), so waren die Orphiker auf allen
diesen Gebieten thätig 2). Mit dem altthrakischen Dionysos-
cult traten bei den griechischen Orphikern die, auf heimischem
Boden entwickelten kathartischen Vorstellungen in einen nicht
unnatürlichen Bund. Die orphischen Reinigungspriester wurden
von manchen Gläubigen anderen ihresgleichen vorgezogen 3).
Im Innern der orphischen Kreise aber hatten sich aus der
nicht vernachlässigten priesterlichen Thätigkeit der Reinigung
und Abwehr dämonischer Hemmnisse weiter und tiefer drin-
gende Ideen der Reinheit, der Ablösung vom irdisch Ver-
gänglichen, der Askese entwickelt, die, mit den Grundvorstel-
lungen der thrakischen Dionysosreligion verschmolzen, dem
Glauben und der Lebensstimmung der Anhänger dieser Secten
den besonderen Klang, ihrer Lebensführung die eigene Rich-
tung gaben.

Die orphische Secte hatte eine bestimmt festgestellte Lehre.
Hierdurch unterscheidet sie sich, wie vom staatlichen Religions-
wesen, so von den übrigen Cultgenossenschaften jener Zeit.
Die Eingrenzung des Glaubens in bestimmte Lehrsätze mag,
mehr als anderes, der orphischen Religionsweise eine Ge-
meinde
von Glaubensbedürftigen zugeführt haben, wie sie

1) S. Lobeck Agl. 235 f.; 237; 242 f.
2) Die praktische Seite der Thätigkeit der Orphiker erst späterer
Entartung der ursprünglich rein speculativ gerichteten Secte zuzuschreiben
(wie vielfach geschieht), ist eine geschichtlich nicht zu rechtfertigende
Willkür. Daraus dass eine deutlichere Schilderung dieser Thätigkeit uns
erst aus dem 4. Jahrhundert (bei Plato) erhalten ist, folgt natürlich nicht,
dass solche Thätigkeit vorher nicht bestand. Ueberdies wird schon als
Zeitgenoss des Königs Leotychides II. von Sparta (reg. 491--469) ein
orpheotelestes Philippos erwähnt in einer Anekdote bei Plut. apophth.
Lacon.
224 E, die man nicht, aus vorgefasster Meinung, so leicht abweisen
kann, wie K. O. Müller Proleg. p. 381 thun möchte. In der telestisch-
kathartischen Praxis hat von Anfang an die orphische Secte ihren Nähr-
boden gehabt.
3) Theophr. char. 16.

der Ueberlieferung nicht nur als gottbegeisterter Sänger, son-
dern auch als Seher, zauberhaft wirkender Arzt und Reini-
gungspriester erscheint 1), so waren die Orphiker auf allen
diesen Gebieten thätig 2). Mit dem altthrakischen Dionysos-
cult traten bei den griechischen Orphikern die, auf heimischem
Boden entwickelten kathartischen Vorstellungen in einen nicht
unnatürlichen Bund. Die orphischen Reinigungspriester wurden
von manchen Gläubigen anderen ihresgleichen vorgezogen 3).
Im Innern der orphischen Kreise aber hatten sich aus der
nicht vernachlässigten priesterlichen Thätigkeit der Reinigung
und Abwehr dämonischer Hemmnisse weiter und tiefer drin-
gende Ideen der Reinheit, der Ablösung vom irdisch Ver-
gänglichen, der Askese entwickelt, die, mit den Grundvorstel-
lungen der thrakischen Dionysosreligion verschmolzen, dem
Glauben und der Lebensstimmung der Anhänger dieser Secten
den besonderen Klang, ihrer Lebensführung die eigene Rich-
tung gaben.

Die orphische Secte hatte eine bestimmt festgestellte Lehre.
Hierdurch unterscheidet sie sich, wie vom staatlichen Religions-
wesen, so von den übrigen Cultgenossenschaften jener Zeit.
Die Eingrenzung des Glaubens in bestimmte Lehrsätze mag,
mehr als anderes, der orphischen Religionsweise eine Ge-
meinde
von Glaubensbedürftigen zugeführt haben, wie sie

1) S. Lobeck Agl. 235 f.; 237; 242 f.
2) Die praktische Seite der Thätigkeit der Orphiker erst späterer
Entartung der ursprünglich rein speculativ gerichteten Secte zuzuschreiben
(wie vielfach geschieht), ist eine geschichtlich nicht zu rechtfertigende
Willkür. Daraus dass eine deutlichere Schilderung dieser Thätigkeit uns
erst aus dem 4. Jahrhundert (bei Plato) erhalten ist, folgt natürlich nicht,
dass solche Thätigkeit vorher nicht bestand. Ueberdies wird schon als
Zeitgenoss des Königs Leotychides II. von Sparta (reg. 491—469) ein
ὀρφεοτελεστής Philippos erwähnt in einer Anekdote bei Plut. apophth.
Lacon.
224 E, die man nicht, aus vorgefasster Meinung, so leicht abweisen
kann, wie K. O. Müller Proleg. p. 381 thun möchte. In der telestisch-
kathartischen Praxis hat von Anfang an die orphische Secte ihren Nähr-
boden gehabt.
3) Theophr. char. 16.
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[402/0418] der Ueberlieferung nicht nur als gottbegeisterter Sänger, son- dern auch als Seher, zauberhaft wirkender Arzt und Reini- gungspriester erscheint 1), so waren die Orphiker auf allen diesen Gebieten thätig 2). Mit dem altthrakischen Dionysos- cult traten bei den griechischen Orphikern die, auf heimischem Boden entwickelten kathartischen Vorstellungen in einen nicht unnatürlichen Bund. Die orphischen Reinigungspriester wurden von manchen Gläubigen anderen ihresgleichen vorgezogen 3). Im Innern der orphischen Kreise aber hatten sich aus der nicht vernachlässigten priesterlichen Thätigkeit der Reinigung und Abwehr dämonischer Hemmnisse weiter und tiefer drin- gende Ideen der Reinheit, der Ablösung vom irdisch Ver- gänglichen, der Askese entwickelt, die, mit den Grundvorstel- lungen der thrakischen Dionysosreligion verschmolzen, dem Glauben und der Lebensstimmung der Anhänger dieser Secten den besonderen Klang, ihrer Lebensführung die eigene Rich- tung gaben. Die orphische Secte hatte eine bestimmt festgestellte Lehre. Hierdurch unterscheidet sie sich, wie vom staatlichen Religions- wesen, so von den übrigen Cultgenossenschaften jener Zeit. Die Eingrenzung des Glaubens in bestimmte Lehrsätze mag, mehr als anderes, der orphischen Religionsweise eine Ge- meinde von Glaubensbedürftigen zugeführt haben, wie sie 1) S. Lobeck Agl. 235 f.; 237; 242 f. 2) Die praktische Seite der Thätigkeit der Orphiker erst späterer Entartung der ursprünglich rein speculativ gerichteten Secte zuzuschreiben (wie vielfach geschieht), ist eine geschichtlich nicht zu rechtfertigende Willkür. Daraus dass eine deutlichere Schilderung dieser Thätigkeit uns erst aus dem 4. Jahrhundert (bei Plato) erhalten ist, folgt natürlich nicht, dass solche Thätigkeit vorher nicht bestand. Ueberdies wird schon als Zeitgenoss des Königs Leotychides II. von Sparta (reg. 491—469) ein ὀρφεοτελεστής Philippos erwähnt in einer Anekdote bei Plut. apophth. Lacon. 224 E, die man nicht, aus vorgefasster Meinung, so leicht abweisen kann, wie K. O. Müller Proleg. p. 381 thun möchte. In der telestisch- kathartischen Praxis hat von Anfang an die orphische Secte ihren Nähr- boden gehabt. 3) Theophr. char. 16.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/418>, abgerufen am 22.11.2024.