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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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So weit reichen die Rudimente alten Seelencultes inmitten
der homerischen Welt. Länger, über die Bestattung hinaus fort-
gesetzte Sorge um die Seelen der Verstorbenen schneidet die
tief eingeprägte Vorstellung ab, dass nach der Verbrennung des
Leibes die Psyche aufgenommen sei in eine unerreichbare Welt
der Unsichtbarkeit, aus der keine Rückkehr ist. Für dieses
völlige Abscheiden der Seele ist allerdings die Verbrennung
des Leibes unerlässliche Voraussetzung. Wenn in Ilias oder
Odyssee bisweilen gesagt wird, unmittelbar nachdem der Tod
eingetreten und noch ehe der Leib verbrannt ist: "und die
Psyche ging zum Hades" 1), so darf man hierin einen nicht
ganz genauen Ausdruck erkennen: nach dem Hades zu ent-
fliegt allerdings die Seele sofort, aber sie schwebt nun zwischen
dem Reiche der Lebenden und dem der Todten, bis dieses sie
zu endgiltigem Verschluss aufnimmt nach Verbrennung des
Leibes. So sagt es die Psyche des Patroklos, als sie nächtens
dem Achill erscheint: sie fleht um schnelle Bestattung, damit
sie durch das Thor des Hades eingehen könne; noch wehren
die anderen Schattenbilder ihr den Eingang, den Uebergang
über den Fluss, unstätt irre sie um das weitthorige Haus des
Ais (Il. 23, 71 ff.). Nur dieses Enteilen nach dem Hades zu
bedeutete es also, wenn auch von Patroklos erzählt wurde: als
er starb, entflog die Psyche aus den Gliedern zum Hause des
Hades (Il. 16, 856). Ganz ebenso heisst es von Elpenor, dem
Genossen des Odysseus, dass seine Seele "zum Hades hinab-
ging" (Od. 10, 560), sie begegnet aber nachher dem Freunde
am Eingang des Schattenreiches, noch nicht ihres Bewusstseins,

1) psukhe d ek Retheon ptamene Aidosde bebekei, on potmon gooosa,
lipous androteta kai eben, Il. 16, 856; 22, 362; vgl. 20, 294; 13, 415.
psukhe d Aidosde katelthen Od. 10, 560; 11, 65. Das völlige Eingehen
in die Tiefe des Reiches des Hades bezeichnen deutlicher Worte wie:
baien domon Aidos eiso, Il. 24, 246, kion Aidos eiso 6, 422 u. ä. So
heisst es in der Odyssee 11, 150 von der Seele des Tiresias, die, mit Odysseus
sich unterredend, doch auch im Hades im weiteren Sinne, genauer aber
nur an dessen äusserem Rande gewesen ist: psukhe men ebe domon Aidos
eiso: nun erst geht sie wieder in das Innere des Hadesbereiches.

So weit reichen die Rudimente alten Seelencultes inmitten
der homerischen Welt. Länger, über die Bestattung hinaus fort-
gesetzte Sorge um die Seelen der Verstorbenen schneidet die
tief eingeprägte Vorstellung ab, dass nach der Verbrennung des
Leibes die Psyche aufgenommen sei in eine unerreichbare Welt
der Unsichtbarkeit, aus der keine Rückkehr ist. Für dieses
völlige Abscheiden der Seele ist allerdings die Verbrennung
des Leibes unerlässliche Voraussetzung. Wenn in Ilias oder
Odyssee bisweilen gesagt wird, unmittelbar nachdem der Tod
eingetreten und noch ehe der Leib verbrannt ist: „und die
Psyche ging zum Hades“ 1), so darf man hierin einen nicht
ganz genauen Ausdruck erkennen: nach dem Hades zu ent-
fliegt allerdings die Seele sofort, aber sie schwebt nun zwischen
dem Reiche der Lebenden und dem der Todten, bis dieses sie
zu endgiltigem Verschluss aufnimmt nach Verbrennung des
Leibes. So sagt es die Psyche des Patroklos, als sie nächtens
dem Achill erscheint: sie fleht um schnelle Bestattung, damit
sie durch das Thor des Hades eingehen könne; noch wehren
die anderen Schattenbilder ihr den Eingang, den Uebergang
über den Fluss, unstätt irre sie um das weitthorige Haus des
Aïs (Il. 23, 71 ff.). Nur dieses Enteilen nach dem Hades zu
bedeutete es also, wenn auch von Patroklos erzählt wurde: als
er starb, entflog die Psyche aus den Gliedern zum Hause des
Hades (Il. 16, 856). Ganz ebenso heisst es von Elpenor, dem
Genossen des Odysseus, dass seine Seele „zum Hades hinab-
ging“ (Od. 10, 560), sie begegnet aber nachher dem Freunde
am Eingang des Schattenreiches, noch nicht ihres Bewusstseins,

1) ψυχὴ δ̕ ἐκ ῥεϑέων πταμένη Ἄϊδόσδε βεβήκει, ὃν πότμον γοόωσα,
λιποῦσ̕ ἀνδροτῆτα καὶ ἥβην, Il. 16, 856; 22, 362; vgl. 20, 294; 13, 415.
ψυχὴ δ̕ Ἄϊδόσδε κατῆλϑεν Od. 10, 560; 11, 65. Das völlige Eingehen
in die Tiefe des Reiches des Hades bezeichnen deutlicher Worte wie:
βαίην δόμον Ἄϊδος εἴσω, Il. 24, 246, κίον Ἄϊδος εἴσω 6, 422 u. ä. So
heisst es in der Odyssee 11, 150 von der Seele des Tiresias, die, mit Odysseus
sich unterredend, doch auch im Hades im weiteren Sinne, genauer aber
nur an dessen äusserem Rande gewesen ist: ψυχὴ μὲν ἔβη δόμον Ἄϊδος
εἴσω: nun erst geht sie wieder in das Innere des Hadesbereiches.
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[25/0041] So weit reichen die Rudimente alten Seelencultes inmitten der homerischen Welt. Länger, über die Bestattung hinaus fort- gesetzte Sorge um die Seelen der Verstorbenen schneidet die tief eingeprägte Vorstellung ab, dass nach der Verbrennung des Leibes die Psyche aufgenommen sei in eine unerreichbare Welt der Unsichtbarkeit, aus der keine Rückkehr ist. Für dieses völlige Abscheiden der Seele ist allerdings die Verbrennung des Leibes unerlässliche Voraussetzung. Wenn in Ilias oder Odyssee bisweilen gesagt wird, unmittelbar nachdem der Tod eingetreten und noch ehe der Leib verbrannt ist: „und die Psyche ging zum Hades“ 1), so darf man hierin einen nicht ganz genauen Ausdruck erkennen: nach dem Hades zu ent- fliegt allerdings die Seele sofort, aber sie schwebt nun zwischen dem Reiche der Lebenden und dem der Todten, bis dieses sie zu endgiltigem Verschluss aufnimmt nach Verbrennung des Leibes. So sagt es die Psyche des Patroklos, als sie nächtens dem Achill erscheint: sie fleht um schnelle Bestattung, damit sie durch das Thor des Hades eingehen könne; noch wehren die anderen Schattenbilder ihr den Eingang, den Uebergang über den Fluss, unstätt irre sie um das weitthorige Haus des Aïs (Il. 23, 71 ff.). Nur dieses Enteilen nach dem Hades zu bedeutete es also, wenn auch von Patroklos erzählt wurde: als er starb, entflog die Psyche aus den Gliedern zum Hause des Hades (Il. 16, 856). Ganz ebenso heisst es von Elpenor, dem Genossen des Odysseus, dass seine Seele „zum Hades hinab- ging“ (Od. 10, 560), sie begegnet aber nachher dem Freunde am Eingang des Schattenreiches, noch nicht ihres Bewusstseins, 1) ψυχὴ δ̕ ἐκ ῥεϑέων πταμένη Ἄϊδόσδε βεβήκει, ὃν πότμον γοόωσα, λιποῦσ̕ ἀνδροτῆτα καὶ ἥβην, Il. 16, 856; 22, 362; vgl. 20, 294; 13, 415. ψυχὴ δ̕ Ἄϊδόσδε κατῆλϑεν Od. 10, 560; 11, 65. Das völlige Eingehen in die Tiefe des Reiches des Hades bezeichnen deutlicher Worte wie: βαίην δόμον Ἄϊδος εἴσω, Il. 24, 246, κίον Ἄϊδος εἴσω 6, 422 u. ä. So heisst es in der Odyssee 11, 150 von der Seele des Tiresias, die, mit Odysseus sich unterredend, doch auch im Hades im weiteren Sinne, genauer aber nur an dessen äusserem Rande gewesen ist: ψυχὴ μὲν ἔβη δόμον Ἄϊδος εἴσω: nun erst geht sie wieder in das Innere des Hadesbereiches.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/41>, abgerufen am 29.03.2024.