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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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der Entartung. Auch in die hier versuchte andeutende Dar-
stellung dieser merkwürdigen Seitentriebe griechischer Religion
mussten Züge aus den Bildern aufgenommen werden, die von
diesem ganzen Wesen eine spätere, längst über Mantik und
Kathartik hinausgewachsene Zeit uns hinterlassen hat. Neben
einer, auf die wirklichen, von innen treibenden Gründe des
Werdens und Geschehens in der weiten Welt und dem be-
schränkten Menschendasein ernstlich den Blick richtenden
Wissenschaft; neben einer, nüchtern und vorsichtig den Be-
dingungen menschlichen Leibeslebens in Gesundheit und Krank-
heit nachforschenden Heilkunde, war die Kathartik, die Mantik
und die ganze aus ihnen hervorgequollene Fülle der Wahn-
ideen stehn geblieben, wie ein Erbstück überwundener Vor-
stellungsweise, immer noch in weiten Kreisen ungestört alt-
gläubigen Volkes lebendig und wirksam, aber von den Gebildeten
und frei Gewordenen als ein anstössiger Zaubertrödel und
Bettelpfaffenunfug verachtet.

So kann dieses Gebilde religiösen Triebes nicht von jeher
ausgesehen haben, so kann es nicht angesehen worden sein,
als es zuerst wirksam hervortrat. Eine Bewegung, deren sich
das delphische Orakel eifrig annahm, der griechische Staaten
vielfach Einfluss auf die Gestaltung ihrer Culteinrichtungen
gewährten, muss eine Zeit gehabt haben, in der sie volles
Recht zum Dasein hatte. Sie muss den Bedürfnissen einer
Zeit entsprochen haben, in der eine bereits erwachte Ahnung
tief verschlungener Zusammenhänge alles Seins und Werdens
sich noch an einer religiösen Deutung aller Geheimnisse ge-
nügen liess, und ein Eindringen in die, dunkel alles umwogende
Geisterwelt einzelnen Auserwählten ernsthaft gläubig zugestand.
Jede Zeit hat ihr eigenes Ideal der "Weisheit". Es gab eine
Zeit, der das Vorbild des "Weisen", des aus eigener Kraft
zu beherrschender Einsicht und Geistesmacht aufgestiegenen
Menschen sich verkörperte in einzelnen grossen Gestalten, in
denen die höchste Vorstellung von Wissen und Wirken des
ekstatischen Sehers und Reinigungspriesters sich vollendet dar-

der Entartung. Auch in die hier versuchte andeutende Dar-
stellung dieser merkwürdigen Seitentriebe griechischer Religion
mussten Züge aus den Bildern aufgenommen werden, die von
diesem ganzen Wesen eine spätere, längst über Mantik und
Kathartik hinausgewachsene Zeit uns hinterlassen hat. Neben
einer, auf die wirklichen, von innen treibenden Gründe des
Werdens und Geschehens in der weiten Welt und dem be-
schränkten Menschendasein ernstlich den Blick richtenden
Wissenschaft; neben einer, nüchtern und vorsichtig den Be-
dingungen menschlichen Leibeslebens in Gesundheit und Krank-
heit nachforschenden Heilkunde, war die Kathartik, die Mantik
und die ganze aus ihnen hervorgequollene Fülle der Wahn-
ideen stehn geblieben, wie ein Erbstück überwundener Vor-
stellungsweise, immer noch in weiten Kreisen ungestört alt-
gläubigen Volkes lebendig und wirksam, aber von den Gebildeten
und frei Gewordenen als ein anstössiger Zaubertrödel und
Bettelpfaffenunfug verachtet.

So kann dieses Gebilde religiösen Triebes nicht von jeher
ausgesehen haben, so kann es nicht angesehen worden sein,
als es zuerst wirksam hervortrat. Eine Bewegung, deren sich
das delphische Orakel eifrig annahm, der griechische Staaten
vielfach Einfluss auf die Gestaltung ihrer Culteinrichtungen
gewährten, muss eine Zeit gehabt haben, in der sie volles
Recht zum Dasein hatte. Sie muss den Bedürfnissen einer
Zeit entsprochen haben, in der eine bereits erwachte Ahnung
tief verschlungener Zusammenhänge alles Seins und Werdens
sich noch an einer religiösen Deutung aller Geheimnisse ge-
nügen liess, und ein Eindringen in die, dunkel alles umwogende
Geisterwelt einzelnen Auserwählten ernsthaft gläubig zugestand.
Jede Zeit hat ihr eigenes Ideal der „Weisheit“. Es gab eine
Zeit, der das Vorbild des „Weisen“, des aus eigener Kraft
zu beherrschender Einsicht und Geistesmacht aufgestiegenen
Menschen sich verkörperte in einzelnen grossen Gestalten, in
denen die höchste Vorstellung von Wissen und Wirken des
ekstatischen Sehers und Reinigungspriesters sich vollendet dar-

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[380/0396] der Entartung. Auch in die hier versuchte andeutende Dar- stellung dieser merkwürdigen Seitentriebe griechischer Religion mussten Züge aus den Bildern aufgenommen werden, die von diesem ganzen Wesen eine spätere, längst über Mantik und Kathartik hinausgewachsene Zeit uns hinterlassen hat. Neben einer, auf die wirklichen, von innen treibenden Gründe des Werdens und Geschehens in der weiten Welt und dem be- schränkten Menschendasein ernstlich den Blick richtenden Wissenschaft; neben einer, nüchtern und vorsichtig den Be- dingungen menschlichen Leibeslebens in Gesundheit und Krank- heit nachforschenden Heilkunde, war die Kathartik, die Mantik und die ganze aus ihnen hervorgequollene Fülle der Wahn- ideen stehn geblieben, wie ein Erbstück überwundener Vor- stellungsweise, immer noch in weiten Kreisen ungestört alt- gläubigen Volkes lebendig und wirksam, aber von den Gebildeten und frei Gewordenen als ein anstössiger Zaubertrödel und Bettelpfaffenunfug verachtet. So kann dieses Gebilde religiösen Triebes nicht von jeher ausgesehen haben, so kann es nicht angesehen worden sein, als es zuerst wirksam hervortrat. Eine Bewegung, deren sich das delphische Orakel eifrig annahm, der griechische Staaten vielfach Einfluss auf die Gestaltung ihrer Culteinrichtungen gewährten, muss eine Zeit gehabt haben, in der sie volles Recht zum Dasein hatte. Sie muss den Bedürfnissen einer Zeit entsprochen haben, in der eine bereits erwachte Ahnung tief verschlungener Zusammenhänge alles Seins und Werdens sich noch an einer religiösen Deutung aller Geheimnisse ge- nügen liess, und ein Eindringen in die, dunkel alles umwogende Geisterwelt einzelnen Auserwählten ernsthaft gläubig zugestand. Jede Zeit hat ihr eigenes Ideal der „Weisheit“. Es gab eine Zeit, der das Vorbild des „Weisen“, des aus eigener Kraft zu beherrschender Einsicht und Geistesmacht aufgestiegenen Menschen sich verkörperte in einzelnen grossen Gestalten, in denen die höchste Vorstellung von Wissen und Wirken des ekstatischen Sehers und Reinigungspriesters sich vollendet dar-

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/396>, abgerufen am 22.11.2024.