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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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und Priester, die sich mit den Geistern in directe Seelen-
gemeinschaft setzen können: die Schamanen Asiens, die
"Medicinmänner" Nordamerikas, die Angekoks der Grönländer,
die Butios der Antillenvölker, die Piajen der Karaiben sind
nur einzelne Typen der überall vertretenen, im wesentlichen
gleichen Gattung; auch Afrika und Australien und die Welt
der Inseln des stillen Oceans entbehrt ihrer nicht; sie gehören
sammt dem ihrem Thun zu Grunde liegenden Vorstellungskreise
zu den mit der Regelmässigkeit eines Naturvorganges sich
geltend machenden und insofern nicht abnorm zu nennenden
Erscheinungen menschlichen Religionswesens. Gedankenlose
Uebung des Ueberlieferten, auch Ersetzung ächter Empfindung
durch täuschende Mimik bleibt dieser Weise religiöser Ge-
fühlsbethätigung natürlich am wenigsten fremd. Die ruhigsten
Beobachter bestätigen gleichwohl 1), dass bei der gewaltsamen
Aufstachelung ihres ganzen Wesens solche "Zauberer" oft,
sogar der Regel nach, in ungeheuchelte Verzückungszustände

nicht anders die Zauberer der Lappen (s. Knud Leems, Nachr. über die
Lappen in Finmarken
[deutsch 1771] p. 236 ff.); der Angekok tritt in
Verkehr mit seinem Torngak (Cranz, Hist. v. Grönland 2I p. 268 ff.);
die Butios verkehren mit den Zemen (Müller, Amerik. Urrelig. 181 f.), die
Piajen mit den Geistern (Müller 217); so wurde durch Tanz u. s. w. Ver-
kehr mit dem göttlichen "Grossvater" hergestellt bei den Abiponen
(Dobrizhoffer, Gesch. der Abip. 2, 89. 95). Ausfahren der Seele ins Geister-
reich erzwingen auch, in ihren Convulsionen, die Zauberer der nord-
amerikanischen Indianer, der Bewohner des stillen Oceans (vgl. Tylor,
Primit. Cult. 2, 122) u. s. w. Ueberall glauben (von völlig übereinstim-
menden Anschauungen über Körper und Seele und deren Verhältniss zu
den Unsichtbaren ausgehend) solche Zauberer "in ihren ekstatischen Zu-
ständen die Schranken zwischen Diesseits und Jenseits durchbrechen zu
können" (Müller a. O. 397); sich hiezu zu befähigen dienen ihnen alle die
Erregungen, mit denen sie sich selbst aufstacheln.
1) Beispielsweise Mariner, Tongainseln (deutsch) 110; Wrangel, Reise
in Sibirien
(Magazin der Reisebeschr. 38) 1, 286 f.; Radloff, Sibirien 2, 58.
Selbst der ehrliche Cranz, der von seinem Standpunkte aus das Treiben
der von ihm so trefflich beobachteten Angekoks unmöglich gerecht beur-
theilen konnte, giebt doch zu, dass vielen unter diesen wirkliche Visionen,
die ihnen "etwas Geisterisches" vorspiegelten, gekommen seien. (Hist. von
Grönland
1, 272 f.).

und Priester, die sich mit den Geistern in directe Seelen-
gemeinschaft setzen können: die Schamanen Asiens, die
„Medicinmänner“ Nordamerikas, die Angekoks der Grönländer,
die Butios der Antillenvölker, die Piajen der Karaïben sind
nur einzelne Typen der überall vertretenen, im wesentlichen
gleichen Gattung; auch Afrika und Australien und die Welt
der Inseln des stillen Oceans entbehrt ihrer nicht; sie gehören
sammt dem ihrem Thun zu Grunde liegenden Vorstellungskreise
zu den mit der Regelmässigkeit eines Naturvorganges sich
geltend machenden und insofern nicht abnorm zu nennenden
Erscheinungen menschlichen Religionswesens. Gedankenlose
Uebung des Ueberlieferten, auch Ersetzung ächter Empfindung
durch täuschende Mimik bleibt dieser Weise religiöser Ge-
fühlsbethätigung natürlich am wenigsten fremd. Die ruhigsten
Beobachter bestätigen gleichwohl 1), dass bei der gewaltsamen
Aufstachelung ihres ganzen Wesens solche „Zauberer“ oft,
sogar der Regel nach, in ungeheuchelte Verzückungszustände

nicht anders die Zauberer der Lappen (s. Knud Leems, Nachr. über die
Lappen in Finmarken
[deutsch 1771] p. 236 ff.); der Angekok tritt in
Verkehr mit seinem Torngak (Cranz, Hist. v. Grönland 2I p. 268 ff.);
die Butios verkehren mit den Zemen (Müller, Amerik. Urrelig. 181 f.), die
Piajen mit den Geistern (Müller 217); so wurde durch Tanz u. s. w. Ver-
kehr mit dem göttlichen „Grossvater“ hergestellt bei den Abiponen
(Dobrizhoffer, Gesch. der Abip. 2, 89. 95). Ausfahren der Seele ins Geister-
reich erzwingen auch, in ihren Convulsionen, die Zauberer der nord-
amerikanischen Indianer, der Bewohner des stillen Oceans (vgl. Tylor,
Primit. Cult. 2, 122) u. s. w. Ueberall glauben (von völlig übereinstim-
menden Anschauungen über Körper und Seele und deren Verhältniss zu
den Unsichtbaren ausgehend) solche Zauberer „in ihren ekstatischen Zu-
ständen die Schranken zwischen Diesseits und Jenseits durchbrechen zu
können“ (Müller a. O. 397); sich hiezu zu befähigen dienen ihnen alle die
Erregungen, mit denen sie sich selbst aufstacheln.
1) Beispielsweise Mariner, Tongainseln (deutsch) 110; Wrangel, Reise
in Sibirien
(Magazin der Reisebeschr. 38) 1, 286 f.; Radloff, Sibirien 2, 58.
Selbst der ehrliche Cranz, der von seinem Standpunkte aus das Treiben
der von ihm so trefflich beobachteten Angekoks unmöglich gerecht beur-
theilen konnte, giebt doch zu, dass vielen unter diesen wirkliche Visionen,
die ihnen „etwas Geisterisches“ vorspiegelten, gekommen seien. (Hist. von
Grönland
1, 272 f.).
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[317/0333] und Priester, die sich mit den Geistern in directe Seelen- gemeinschaft setzen können: die Schamanen Asiens, die „Medicinmänner“ Nordamerikas, die Angekoks der Grönländer, die Butios der Antillenvölker, die Piajen der Karaïben sind nur einzelne Typen der überall vertretenen, im wesentlichen gleichen Gattung; auch Afrika und Australien und die Welt der Inseln des stillen Oceans entbehrt ihrer nicht; sie gehören sammt dem ihrem Thun zu Grunde liegenden Vorstellungskreise zu den mit der Regelmässigkeit eines Naturvorganges sich geltend machenden und insofern nicht abnorm zu nennenden Erscheinungen menschlichen Religionswesens. Gedankenlose Uebung des Ueberlieferten, auch Ersetzung ächter Empfindung durch täuschende Mimik bleibt dieser Weise religiöser Ge- fühlsbethätigung natürlich am wenigsten fremd. Die ruhigsten Beobachter bestätigen gleichwohl 1), dass bei der gewaltsamen Aufstachelung ihres ganzen Wesens solche „Zauberer“ oft, sogar der Regel nach, in ungeheuchelte Verzückungszustände 2) 1) Beispielsweise Mariner, Tongainseln (deutsch) 110; Wrangel, Reise in Sibirien (Magazin der Reisebeschr. 38) 1, 286 f.; Radloff, Sibirien 2, 58. Selbst der ehrliche Cranz, der von seinem Standpunkte aus das Treiben der von ihm so trefflich beobachteten Angekoks unmöglich gerecht beur- theilen konnte, giebt doch zu, dass vielen unter diesen wirkliche Visionen, die ihnen „etwas Geisterisches“ vorspiegelten, gekommen seien. (Hist. von Grönland 1, 272 f.). 2) nicht anders die Zauberer der Lappen (s. Knud Leems, Nachr. über die Lappen in Finmarken [deutsch 1771] p. 236 ff.); der Angekok tritt in Verkehr mit seinem Torngak (Cranz, Hist. v. Grönland 2I p. 268 ff.); die Butios verkehren mit den Zemen (Müller, Amerik. Urrelig. 181 f.), die Piajen mit den Geistern (Müller 217); so wurde durch Tanz u. s. w. Ver- kehr mit dem göttlichen „Grossvater“ hergestellt bei den Abiponen (Dobrizhoffer, Gesch. der Abip. 2, 89. 95). Ausfahren der Seele ins Geister- reich erzwingen auch, in ihren Convulsionen, die Zauberer der nord- amerikanischen Indianer, der Bewohner des stillen Oceans (vgl. Tylor, Primit. Cult. 2, 122) u. s. w. Ueberall glauben (von völlig übereinstim- menden Anschauungen über Körper und Seele und deren Verhältniss zu den Unsichtbaren ausgehend) solche Zauberer „in ihren ekstatischen Zu- ständen die Schranken zwischen Diesseits und Jenseits durchbrechen zu können“ (Müller a. O. 397); sich hiezu zu befähigen dienen ihnen alle die Erregungen, mit denen sie sich selbst aufstacheln.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/333>, abgerufen am 22.11.2024.