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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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wiederholten und wetteifernden Darstellung des Gegenstandes
muss sich allmählich ein immer grösserer Reichthum der Ge-
stalten und Erscheinungen im Hades angesammelt haben. Wir
wissen zufällig von der sonst wenig bekannten Minyas, wie sie
den Vorrath vermehrte. Wie weit hier volksthümliche Phan-
tasie und Sage, wie weit dichterische Erfindung thätig war,
würde man vergeblich fragen. Vermuthlich war es, wie in
griechischer Sagenbildung zumeist, ein Hin und Wieder, in
welchem doch das Uebergewicht der Erfindsamkeit auf Seiten
der Poesie war. Rein dichterische Bilder oder Visionen, wie
die von der Entrückung lebender Helden nach Elysion oder
nach den Inseln der Seligen, konnten sich allmählich popu-
lärem Glauben einschmeicheln. "Liebster Harmodios," sagt
das athenische Skolion, "du bist wohl nicht gestorben, sondern
auf den Inseln der Seligen, sagt man, seist du." Dogmatisch
festgesetzt war damit nichts: in der Leichenrede des Hyperides
wird ausgemalt, wie die Tyrannenmörder, Harmodios und
Aristogeiton, dem Leosthenes und seinen Kampfgenossen unter
anderen grossen Todten drunten im Hades begegnen 1).

Manches, was von einzelnen Dichtern zur Ausfüllung oder
Ausstattung des öden Reiches erfunden sein mochte, prägte
sich der Vorstellung so fest ein, dass es zuletzt wie ein Er-

spricht dafür, dass der in der Minyas die atra atria Ditis Besuchende
Orpheus war: eher könnte man, bei unbefangener Auslegung, aus fr. 1
(Paus. 10, 28, 2) entnehmen, dass Theseus und Peirithoos es waren, deren
Hadesfahrt den Rahmen für die Hadesepisode des Gedichts abgab. Es
besteht mithin nicht der allergeringste Grund, die Minyas dem Kreise
der Orphischen Dichtung zuzurechnen, und, was aus ihrem Inhalt bekannt
ist, als Orphische Mythologeme auszugeben (was auch Lobeck selbst nicht
gethan hat: er kannte dazu Wesen und Sinn des wirklich Orphischen zu
genau).
1) Hyperides Epitaph. p. 63. 65 (ed. Blass): Leosthenes wird en
Aidou antreffen die Helden des troischen, des Perserkrieges, und so auch
den Harmodios und Aristogeiton. Solche Wendungen sind stereotyp.
Vgl. Plato, Apol. 41 A -- C. Epigramm aus Knossos auf einen im
Reiterkampf ausgezeichneten Kreter: Bull. corr. hell. 1889 p. 60 (v. 1. 2
nach Simonides, ep. 99, 3. 4. Bgk.), v. 9, 10: touneka se phthimenon kath
omegurin o klutos Ades ise polissoukho sunthronon Idomenei.

wiederholten und wetteifernden Darstellung des Gegenstandes
muss sich allmählich ein immer grösserer Reichthum der Ge-
stalten und Erscheinungen im Hades angesammelt haben. Wir
wissen zufällig von der sonst wenig bekannten Minyas, wie sie
den Vorrath vermehrte. Wie weit hier volksthümliche Phan-
tasie und Sage, wie weit dichterische Erfindung thätig war,
würde man vergeblich fragen. Vermuthlich war es, wie in
griechischer Sagenbildung zumeist, ein Hin und Wieder, in
welchem doch das Uebergewicht der Erfindsamkeit auf Seiten
der Poesie war. Rein dichterische Bilder oder Visionen, wie
die von der Entrückung lebender Helden nach Elysion oder
nach den Inseln der Seligen, konnten sich allmählich popu-
lärem Glauben einschmeicheln. „Liebster Harmodios,“ sagt
das athenische Skolion, „du bist wohl nicht gestorben, sondern
auf den Inseln der Seligen, sagt man, seist du.“ Dogmatisch
festgesetzt war damit nichts: in der Leichenrede des Hyperides
wird ausgemalt, wie die Tyrannenmörder, Harmodios und
Aristogeiton, dem Leosthenes und seinen Kampfgenossen unter
anderen grossen Todten drunten im Hades begegnen 1).

Manches, was von einzelnen Dichtern zur Ausfüllung oder
Ausstattung des öden Reiches erfunden sein mochte, prägte
sich der Vorstellung so fest ein, dass es zuletzt wie ein Er-

spricht dafür, dass der in der Minyas die atra atria Ditis Besuchende
Orpheus war: eher könnte man, bei unbefangener Auslegung, aus fr. 1
(Paus. 10, 28, 2) entnehmen, dass Theseus und Peirithoos es waren, deren
Hadesfahrt den Rahmen für die Hadesepisode des Gedichts abgab. Es
besteht mithin nicht der allergeringste Grund, die Minyas dem Kreise
der Orphischen Dichtung zuzurechnen, und, was aus ihrem Inhalt bekannt
ist, als Orphische Mythologeme auszugeben (was auch Lobeck selbst nicht
gethan hat: er kannte dazu Wesen und Sinn des wirklich Orphischen zu
genau).
1) Hyperides Epitaph. p. 63. 65 (ed. Blass): Leosthenes wird ἐν
Ἅιδου antreffen die Helden des troischen, des Perserkrieges, und so auch
den Harmodios und Aristogeiton. Solche Wendungen sind stereotyp.
Vgl. Plato, Apol. 41 A — C. Epigramm aus Knossos auf einen im
Reiterkampf ausgezeichneten Kreter: Bull. corr. hell. 1889 p. 60 (v. 1. 2
nach Simonides, ep. 99, 3. 4. Bgk.), v. 9, 10: τοὔνεκά σε φϑιμένων καϑ̕
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[279/0295] wiederholten und wetteifernden Darstellung des Gegenstandes muss sich allmählich ein immer grösserer Reichthum der Ge- stalten und Erscheinungen im Hades angesammelt haben. Wir wissen zufällig von der sonst wenig bekannten Minyas, wie sie den Vorrath vermehrte. Wie weit hier volksthümliche Phan- tasie und Sage, wie weit dichterische Erfindung thätig war, würde man vergeblich fragen. Vermuthlich war es, wie in griechischer Sagenbildung zumeist, ein Hin und Wieder, in welchem doch das Uebergewicht der Erfindsamkeit auf Seiten der Poesie war. Rein dichterische Bilder oder Visionen, wie die von der Entrückung lebender Helden nach Elysion oder nach den Inseln der Seligen, konnten sich allmählich popu- lärem Glauben einschmeicheln. „Liebster Harmodios,“ sagt das athenische Skolion, „du bist wohl nicht gestorben, sondern auf den Inseln der Seligen, sagt man, seist du.“ Dogmatisch festgesetzt war damit nichts: in der Leichenrede des Hyperides wird ausgemalt, wie die Tyrannenmörder, Harmodios und Aristogeiton, dem Leosthenes und seinen Kampfgenossen unter anderen grossen Todten drunten im Hades begegnen 1). Manches, was von einzelnen Dichtern zur Ausfüllung oder Ausstattung des öden Reiches erfunden sein mochte, prägte sich der Vorstellung so fest ein, dass es zuletzt wie ein Er- 2) 1) Hyperides Epitaph. p. 63. 65 (ed. Blass): Leosthenes wird ἐν Ἅιδου antreffen die Helden des troischen, des Perserkrieges, und so auch den Harmodios und Aristogeiton. Solche Wendungen sind stereotyp. Vgl. Plato, Apol. 41 A — C. Epigramm aus Knossos auf einen im Reiterkampf ausgezeichneten Kreter: Bull. corr. hell. 1889 p. 60 (v. 1. 2 nach Simonides, ep. 99, 3. 4. Bgk.), v. 9, 10: τοὔνεκά σε φϑιμένων καϑ̕ ὁμήγυριν ὁ κλυτὸς Ἅδης ἷσε πολισσούχῳ σύνϑρονον Ἰδομενεῖ. 2) spricht dafür, dass der in der Minyas die atra atria Ditis Besuchende Orpheus war: eher könnte man, bei unbefangener Auslegung, aus fr. 1 (Paus. 10, 28, 2) entnehmen, dass Theseus und Peirithoos es waren, deren Hadesfahrt den Rahmen für die Hadesepisode des Gedichts abgab. Es besteht mithin nicht der allergeringste Grund, die Minyas dem Kreise der Orphischen Dichtung zuzurechnen, und, was aus ihrem Inhalt bekannt ist, als Orphische Mythologeme auszugeben (was auch Lobeck selbst nicht gethan hat: er kannte dazu Wesen und Sinn des wirklich Orphischen zu genau).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/295>, abgerufen am 15.05.2024.