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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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baren Reiches der Schatten, das wurde zu einer ganz unver-
fänglich scheinenden Beschäftigung dichterischer Laune, seit sich
der Glaube an bewusstes Weiterleben der abgeschiedenen Seelen
neu befestigt hatte.

Der Hadesfahrt des Odysseus und ihrer Ausdichtung im
Sinne allmählich lebhafter werdender Vorstellungen vom jen-
seitigen Leben waren in epischer Dichtung frühzeitig Erzäh-
lungen von ähnlichen Fahrten anderer Helden gefolgt. Ein
hesiodisches Gedicht schilderte des Theseus und Peirithoos
Gang in die Unterwelt 1). Eine Nekyia (unbekannten Inhalts)
kam in dem Gedichte von der Rückkehr der Helden von Troja
vor. In dem "Minyas" benannten Epos scheint eine Hades-
fahrt einen breiten Raum eingenommen zu haben 2). Bei solcher

1) Paus. 9, 31, 5.
2) Die Reste bei Kinkel, Fragm. epic. 1, 215 ff. -- Diese Minuas
hat K. O. Müller, Orchom.2 p. 12 mit der Orphischen katabasis eis Aidou
identificirt, und dieser Vermuthung hat sogar Lobeck, Agl. 360. 373,
wiewohl zweifelnd, zugestimmt. Sie beruht ganz allein darauf, dass un-
sichere Vermuthung die Orphische katabasis nach Clemens dem Prodikos
von Samos, nach Suidas dem Herodikos von Perinth (oder dem Kekrops
oder dem Orpheus von Kamarina) zuschrieb, die Minyas aber, nach
Paus. 4, 33, 7, unsichere Vermuthung einem Prodikos von Phokäa gab.
Müller identificirt erst den Prodikos von Samos mit dem Herodikos von
Perinth, dann beide mit dem Prodikos von Phokäa. Die Berechtigung
dieser Procedur ist nun schon sehr wenig "augenscheinlich", vollends be-
denklich ist die einzig auf dieser willkürlichen Annahme fussende Iden-
tificirung der Orphischen katabasis eis adou mit der Minyas. Soll man
diese (nur mit fingirten und durchweg unhaltbaren Beispielen zu ver-
theidigende) Doppelbenennung eines erzählenden Gedichtes alter Zeit denk-
bar finden, so müsste mindestens doch glaublich nachgewiesen sein, wie der
Name Minuas (der in orphischer Litteratur keine Parallele findet, und als
Gegenstand der Dichtung ein Heldenabenteuer mit nur episodisch ein-
gelegter Nekyia vermuthen lässt) einem Gedicht überhaupt gegeben werden
konnte, als dessen vollen Inhalt sein Titel: katabasis eis Aidou
vollkommen deutlich bezeichnet eine Hadesfahrt -- natürlich des Orpheus
selbst (wie auch Lobeck 373 annimmt). Dazu steht Alles, was uns aus
der Nekyia der Minyas mitgetheilt wird, von Orphischer Art und Lehre,
wie sie sich am deutlichsten in einer solchen Vision des Lebens im Jen-
seits kundgeben musste, weit ab. Auch wird nie irgend eine der aus der
Minyas erhaltenen Angaben unter dem Namen des "Orpheus" irgendwo
mitgetheilt, wie doch sonst mancherlei Höllenmythologie. Und nichts

baren Reiches der Schatten, das wurde zu einer ganz unver-
fänglich scheinenden Beschäftigung dichterischer Laune, seit sich
der Glaube an bewusstes Weiterleben der abgeschiedenen Seelen
neu befestigt hatte.

Der Hadesfahrt des Odysseus und ihrer Ausdichtung im
Sinne allmählich lebhafter werdender Vorstellungen vom jen-
seitigen Leben waren in epischer Dichtung frühzeitig Erzäh-
lungen von ähnlichen Fahrten anderer Helden gefolgt. Ein
hesiodisches Gedicht schilderte des Theseus und Peirithoos
Gang in die Unterwelt 1). Eine Nekyia (unbekannten Inhalts)
kam in dem Gedichte von der Rückkehr der Helden von Troja
vor. In dem „Minyas“ benannten Epos scheint eine Hades-
fahrt einen breiten Raum eingenommen zu haben 2). Bei solcher

1) Paus. 9, 31, 5.
2) Die Reste bei Kinkel, Fragm. epic. 1, 215 ff. — Diese Μινυάς
hat K. O. Müller, Orchom.2 p. 12 mit der Orphischen κατάβασις εἰς Ἅιδου
identificirt, und dieser Vermuthung hat sogar Lobeck, Agl. 360. 373,
wiewohl zweifelnd, zugestimmt. Sie beruht ganz allein darauf, dass un-
sichere Vermuthung die Orphische κατάβασις nach Clemens dem Prodikos
von Samos, nach Suidas dem Herodikos von Perinth (oder dem Kekrops
oder dem Orpheus von Kamarina) zuschrieb, die Minyas aber, nach
Paus. 4, 33, 7, unsichere Vermuthung einem Prodikos von Phokäa gab.
Müller identificirt erst den Prodikos von Samos mit dem Herodikos von
Perinth, dann beide mit dem Prodikos von Phokäa. Die Berechtigung
dieser Procedur ist nun schon sehr wenig „augenscheinlich“, vollends be-
denklich ist die einzig auf dieser willkürlichen Annahme fussende Iden-
tificirung der Orphischen κατάβασις εἰς ᾅδου mit der Minyas. Soll man
diese (nur mit fingirten und durchweg unhaltbaren Beispielen zu ver-
theidigende) Doppelbenennung eines erzählenden Gedichtes alter Zeit denk-
bar finden, so müsste mindestens doch glaublich nachgewiesen sein, wie der
Name Μινυάς (der in orphischer Litteratur keine Parallele findet, und als
Gegenstand der Dichtung ein Heldenabenteuer mit nur episodisch ein-
gelegter Nekyia vermuthen lässt) einem Gedicht überhaupt gegeben werden
konnte, als dessen vollen Inhalt sein Titel: κατάβασις εἰς Ἅιδου
vollkommen deutlich bezeichnet eine Hadesfahrt — natürlich des Orpheus
selbst (wie auch Lobeck 373 annimmt). Dazu steht Alles, was uns aus
der Nekyia der Minyas mitgetheilt wird, von Orphischer Art und Lehre,
wie sie sich am deutlichsten in einer solchen Vision des Lebens im Jen-
seits kundgeben musste, weit ab. Auch wird nie irgend eine der aus der
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[278/0294] baren Reiches der Schatten, das wurde zu einer ganz unver- fänglich scheinenden Beschäftigung dichterischer Laune, seit sich der Glaube an bewusstes Weiterleben der abgeschiedenen Seelen neu befestigt hatte. Der Hadesfahrt des Odysseus und ihrer Ausdichtung im Sinne allmählich lebhafter werdender Vorstellungen vom jen- seitigen Leben waren in epischer Dichtung frühzeitig Erzäh- lungen von ähnlichen Fahrten anderer Helden gefolgt. Ein hesiodisches Gedicht schilderte des Theseus und Peirithoos Gang in die Unterwelt 1). Eine Nekyia (unbekannten Inhalts) kam in dem Gedichte von der Rückkehr der Helden von Troja vor. In dem „Minyas“ benannten Epos scheint eine Hades- fahrt einen breiten Raum eingenommen zu haben 2). Bei solcher 1) Paus. 9, 31, 5. 2) Die Reste bei Kinkel, Fragm. epic. 1, 215 ff. — Diese Μινυάς hat K. O. Müller, Orchom.2 p. 12 mit der Orphischen κατάβασις εἰς Ἅιδου identificirt, und dieser Vermuthung hat sogar Lobeck, Agl. 360. 373, wiewohl zweifelnd, zugestimmt. Sie beruht ganz allein darauf, dass un- sichere Vermuthung die Orphische κατάβασις nach Clemens dem Prodikos von Samos, nach Suidas dem Herodikos von Perinth (oder dem Kekrops oder dem Orpheus von Kamarina) zuschrieb, die Minyas aber, nach Paus. 4, 33, 7, unsichere Vermuthung einem Prodikos von Phokäa gab. Müller identificirt erst den Prodikos von Samos mit dem Herodikos von Perinth, dann beide mit dem Prodikos von Phokäa. Die Berechtigung dieser Procedur ist nun schon sehr wenig „augenscheinlich“, vollends be- denklich ist die einzig auf dieser willkürlichen Annahme fussende Iden- tificirung der Orphischen κατάβασις εἰς ᾅδου mit der Minyas. Soll man diese (nur mit fingirten und durchweg unhaltbaren Beispielen zu ver- theidigende) Doppelbenennung eines erzählenden Gedichtes alter Zeit denk- bar finden, so müsste mindestens doch glaublich nachgewiesen sein, wie der Name Μινυάς (der in orphischer Litteratur keine Parallele findet, und als Gegenstand der Dichtung ein Heldenabenteuer mit nur episodisch ein- gelegter Nekyia vermuthen lässt) einem Gedicht überhaupt gegeben werden konnte, als dessen vollen Inhalt sein Titel: κατάβασις εἰς Ἅιδου vollkommen deutlich bezeichnet eine Hadesfahrt — natürlich des Orpheus selbst (wie auch Lobeck 373 annimmt). Dazu steht Alles, was uns aus der Nekyia der Minyas mitgetheilt wird, von Orphischer Art und Lehre, wie sie sich am deutlichsten in einer solchen Vision des Lebens im Jen- seits kundgeben musste, weit ab. Auch wird nie irgend eine der aus der Minyas erhaltenen Angaben unter dem Namen des „Orpheus“ irgendwo mitgetheilt, wie doch sonst mancherlei Höllenmythologie. Und nichts

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/294>, abgerufen am 15.05.2024.