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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Griechenthum dieser gebildeten Jahrhunderte unmöglich neu
entstanden sein können, sondern entweder aus urweltlicher Roh-
heit der griechischen Vorzeit jetzt neu aufgetaucht, oder von
barbarischen Nachbarn allzu willig entlehnt sind, immer aber
die sinnlichsten Vorstellungen von der Lebenskraft und Rache-
gewalt der Seelen Ermordeter voraussetzen lassen.

Und welche Bedeutung für die Ausbildung eines volks-
thümlich gestalteten allgemeineren Glaubens an die Unsterblich-
keit der freigewordenen Seele das, was man von den Seelen Er-
mordeter zu wissen glaubte, gewinnen konnte, das mag man
ermessen, wenn man beachtet, wie Xenophon seinen sterbenden
Kyros, zum stärksten Beweis für die Hoffnung auf das un-
sterbliche Weiterleben aller Seelen nach ihrer Trennung vom
Leibe, sich berufen lässt auf eben jene unbezweifelten That-
sachen, die das Fortleben der Seelen "derer, die Unrecht er-
litten haben", zugestandener Maassen bewiesen. Daneben ist
ihm ein wichtiges Argument dieses, dass doch den Todten
nicht noch bis auf diesen Tag ihre Ehren unversehrt er-
halten geblieben wären, wenn ihre Seelen aller Wirkung
und Macht beraubt wären 1). Hier sieht man, wie der Cult

El. 446 wischt die Mörderin auch das blutige Mordinstrument an dem
Haupte des Gemordeten ab; Mörder thaten das, osper apotropiazomenoi to
musos to en to phono (Schol.). Auf die Sitte spielen Stellen der Odyssee, des
Herodot und Demosthenes an (s. Nauck zu Soph.); ihr Sinn wird doch wohl
gleichkommen einem: eis kephalen soi, das Blut wird dem Gemordeten
selbst aufgebürdet. Aehnlichen Zweck hat es, wenn bei Apollon. Rhod.
Arg. 4, 477 f. Iason dreimal dem Apsyrtos Blut aussaugt und dieses
dreimal von sich speit -- e themis authentesi doloktasias ileasthai. Drei-
maliges Ausspeien gehört stets zum Zauber und Gegenzauber; hier wird
das Blut des Ermordeten und damit die dämonische Wirkung des aus
dem Blute aufsteigenden Fluches durch das Fortspeien abgewendet. --
Aber welches "Naturvolk" hat primitivere Vorstellungen und handgreif-
lichere Symbolik als in diesen Fällen der griechische Pöbel, und vielleicht
nicht allein der Pöbel, des fünften (und dann auch des dritten) Jahr-
hunderts!
1) Xenoph. Cyrop. 8, 7, 17 ff.: ou gar depou touto ge saphos dokeits
eidenai, os ouden eimi ego eti, epeidan tou anthropinou biou teleuteso ; oude
gar nun toi ten g emen psukhen eorate -- -- -- tas de ton adika pathonton

Griechenthum dieser gebildeten Jahrhunderte unmöglich neu
entstanden sein können, sondern entweder aus urweltlicher Roh-
heit der griechischen Vorzeit jetzt neu aufgetaucht, oder von
barbarischen Nachbarn allzu willig entlehnt sind, immer aber
die sinnlichsten Vorstellungen von der Lebenskraft und Rache-
gewalt der Seelen Ermordeter voraussetzen lassen.

Und welche Bedeutung für die Ausbildung eines volks-
thümlich gestalteten allgemeineren Glaubens an die Unsterblich-
keit der freigewordenen Seele das, was man von den Seelen Er-
mordeter zu wissen glaubte, gewinnen konnte, das mag man
ermessen, wenn man beachtet, wie Xenophon seinen sterbenden
Kyros, zum stärksten Beweis für die Hoffnung auf das un-
sterbliche Weiterleben aller Seelen nach ihrer Trennung vom
Leibe, sich berufen lässt auf eben jene unbezweifelten That-
sachen, die das Fortleben der Seelen „derer, die Unrecht er-
litten haben“, zugestandener Maassen bewiesen. Daneben ist
ihm ein wichtiges Argument dieses, dass doch den Todten
nicht noch bis auf diesen Tag ihre Ehren unversehrt er-
halten geblieben wären, wenn ihre Seelen aller Wirkung
und Macht beraubt wären 1). Hier sieht man, wie der Cult

El. 446 wischt die Mörderin auch das blutige Mordinstrument an dem
Haupte des Gemordeten ab; Mörder thaten das, ὥσπερ ἀποτροπιαζόμενοι τὸ
μύσος τὸ ἐν τῷ φόνῳ (Schol.). Auf die Sitte spielen Stellen der Odyssee, des
Herodot und Demosthenes an (s. Nauck zu Soph.); ihr Sinn wird doch wohl
gleichkommen einem: εἰς κεφαλὴν σοί, das Blut wird dem Gemordeten
selbst aufgebürdet. Aehnlichen Zweck hat es, wenn bei Apollon. Rhod.
Arg. 4, 477 f. Iason dreimal dem Apsyrtos Blut aussaugt und dieses
dreimal von sich speit — ἣ ϑέμις αὐϑέντῃσι δολοκτασίας ἱλέασϑαι. Drei-
maliges Ausspeien gehört stets zum Zauber und Gegenzauber; hier wird
das Blut des Ermordeten und damit die dämonische Wirkung des aus
dem Blute aufsteigenden Fluches durch das Fortspeien abgewendet. —
Aber welches „Naturvolk“ hat primitivere Vorstellungen und handgreif-
lichere Symbolik als in diesen Fällen der griechische Pöbel, und vielleicht
nicht allein der Pöbel, des fünften (und dann auch des dritten) Jahr-
hunderts!
1) Xenoph. Cyrop. 8, 7, 17 ff.: οὐ γὰρ δήπου τοῦτό γε σαφῶς δοκεῖτς
εἰδέναι, ὡς οὐδέν εἰμι ἐγὼ ἔτι, ἐπειδὰν τοῦ ἀνϑρωπίνου βίου τελευτήσω · οὐδὲ
γὰρ νῦν τοι τήν γ̕ ἐμὴν ψυχὴν ἑωρᾶτε — — — τὰς δὲ τῶν ἄδικα παϑόντων
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[254/0270] Griechenthum dieser gebildeten Jahrhunderte unmöglich neu entstanden sein können, sondern entweder aus urweltlicher Roh- heit der griechischen Vorzeit jetzt neu aufgetaucht, oder von barbarischen Nachbarn allzu willig entlehnt sind, immer aber die sinnlichsten Vorstellungen von der Lebenskraft und Rache- gewalt der Seelen Ermordeter voraussetzen lassen. Und welche Bedeutung für die Ausbildung eines volks- thümlich gestalteten allgemeineren Glaubens an die Unsterblich- keit der freigewordenen Seele das, was man von den Seelen Er- mordeter zu wissen glaubte, gewinnen konnte, das mag man ermessen, wenn man beachtet, wie Xenophon seinen sterbenden Kyros, zum stärksten Beweis für die Hoffnung auf das un- sterbliche Weiterleben aller Seelen nach ihrer Trennung vom Leibe, sich berufen lässt auf eben jene unbezweifelten That- sachen, die das Fortleben der Seelen „derer, die Unrecht er- litten haben“, zugestandener Maassen bewiesen. Daneben ist ihm ein wichtiges Argument dieses, dass doch den Todten nicht noch bis auf diesen Tag ihre Ehren unversehrt er- halten geblieben wären, wenn ihre Seelen aller Wirkung und Macht beraubt wären 1). Hier sieht man, wie der Cult 1) 1) Xenoph. Cyrop. 8, 7, 17 ff.: οὐ γὰρ δήπου τοῦτό γε σαφῶς δοκεῖτς εἰδέναι, ὡς οὐδέν εἰμι ἐγὼ ἔτι, ἐπειδὰν τοῦ ἀνϑρωπίνου βίου τελευτήσω · οὐδὲ γὰρ νῦν τοι τήν γ̕ ἐμὴν ψυχὴν ἑωρᾶτε — — — τὰς δὲ τῶν ἄδικα παϑόντων 1) El. 446 wischt die Mörderin auch das blutige Mordinstrument an dem Haupte des Gemordeten ab; Mörder thaten das, ὥσπερ ἀποτροπιαζόμενοι τὸ μύσος τὸ ἐν τῷ φόνῳ (Schol.). Auf die Sitte spielen Stellen der Odyssee, des Herodot und Demosthenes an (s. Nauck zu Soph.); ihr Sinn wird doch wohl gleichkommen einem: εἰς κεφαλὴν σοί, das Blut wird dem Gemordeten selbst aufgebürdet. Aehnlichen Zweck hat es, wenn bei Apollon. Rhod. Arg. 4, 477 f. Iason dreimal dem Apsyrtos Blut aussaugt und dieses dreimal von sich speit — ἣ ϑέμις αὐϑέντῃσι δολοκτασίας ἱλέασϑαι. Drei- maliges Ausspeien gehört stets zum Zauber und Gegenzauber; hier wird das Blut des Ermordeten und damit die dämonische Wirkung des aus dem Blute aufsteigenden Fluches durch das Fortspeien abgewendet. — Aber welches „Naturvolk“ hat primitivere Vorstellungen und handgreif- lichere Symbolik als in diesen Fällen der griechische Pöbel, und vielleicht nicht allein der Pöbel, des fünften (und dann auch des dritten) Jahr- hunderts!

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/270>, abgerufen am 24.11.2024.