wie einst in dem vorbildlichen Process des Orestes, in dem sie die Klägerinnen waren 1). In diesem athenischen Dienst hatten die Erinyen ihre wahre und ursprüngliche Natur noch nicht so weit verloren, dass sie etwa zu Hüterinnen des Rechtes schlechtweg geworden wären, als welche sie, in blassester Ver- allgemeinerung ihrer von Anfang viel enger bestimmten Art, bei Dichtern und Philosophen bisweilen dargestellt werden. Sie sind furchtbare Dämonen, in der Erdtiefe hausend, aus der sie durch die Flüche und Verwünschungen derjenigen herauf- beschworen werden, denen kein irdischer Rächer lebt. Daher sie vor Allem Mordthaten innerhalb der Familie rächen an dem, der eben den erschlagen hat, dessen Bluträcher er, falls ein anderer ihn erlegt hätte, hätte sein müssen. Hat der Sohn den Vater oder die Mutter erschlagen, -- wer soll da die Blutrache vollstrecken, die dem nächsten Verwandten des Ge- tödteten obliegt? Dieser nächste Verwandte ist der Mörder selbst. Dass dennoch dem Gemordeten seine Genugthuung werde, darüber wacht die Erinys des Vaters, der Mutter, die aus dem Seelenreich hervorbricht, den Mörder zu fangen. An seine Sohlen heftet sie sich, Tag und Nacht ihn ängstigend, vampyrgleich saugt sie ihm das Blut aus 2); er ist ihr verfallen als Opferthier 3). Und noch im geordneten Rechtsstaate sind es die Erinyen, die vor den Blutgerichten Rache heischen gegen
1) Die Erinyen sind die Anklägerinnen des Orestes nicht nur in der Dichtung des Aeschylus (und darnach bei Euripides, Iph. Taur. 940 ff.), sondern auch nach der, aus anderen Quellen geflossenen Darstellung (in der die 12 Götter als Richter gelten) bei Demosthenes, Aristocrat. 66 (vgl. 74, und Dinarch. adv. Demosth. 87).
2) Es ist Art der Erinyen apo zontos Rophein eruthron ek meleon pe- lanon Aesch. Eum. 264 f., vgl. 183 f.; 302; 305. Sie gleichen hierin völlig den "Vampyrn", von denen Sagen namentlich slavischer Völker erzählen, den Tii der Polynesier u. s. w. Aber dies sind aus dem Grabe wieder- kehrende, blutsaugende Seelen.
3) Die Erinyen zu Orestes: emoi trapheis te kai kathieromenos. kai zon me daiseis oude pros bomo sphageis. Aesch. Eum. 304 f. Der Mutter- mörder ist divis parentum (d. h. ihren Manes) sacer, ihr Opferthier (thuma katakhthoniou Dios Dionys. ant. 2, 10, 3), auch nach altgriechischem Glauben.
wie einst in dem vorbildlichen Process des Orestes, in dem sie die Klägerinnen waren 1). In diesem athenischen Dienst hatten die Erinyen ihre wahre und ursprüngliche Natur noch nicht so weit verloren, dass sie etwa zu Hüterinnen des Rechtes schlechtweg geworden wären, als welche sie, in blassester Ver- allgemeinerung ihrer von Anfang viel enger bestimmten Art, bei Dichtern und Philosophen bisweilen dargestellt werden. Sie sind furchtbare Dämonen, in der Erdtiefe hausend, aus der sie durch die Flüche und Verwünschungen derjenigen herauf- beschworen werden, denen kein irdischer Rächer lebt. Daher sie vor Allem Mordthaten innerhalb der Familie rächen an dem, der eben den erschlagen hat, dessen Bluträcher er, falls ein anderer ihn erlegt hätte, hätte sein müssen. Hat der Sohn den Vater oder die Mutter erschlagen, — wer soll da die Blutrache vollstrecken, die dem nächsten Verwandten des Ge- tödteten obliegt? Dieser nächste Verwandte ist der Mörder selbst. Dass dennoch dem Gemordeten seine Genugthuung werde, darüber wacht die Erinys des Vaters, der Mutter, die aus dem Seelenreich hervorbricht, den Mörder zu fangen. An seine Sohlen heftet sie sich, Tag und Nacht ihn ängstigend, vampyrgleich saugt sie ihm das Blut aus 2); er ist ihr verfallen als Opferthier 3). Und noch im geordneten Rechtsstaate sind es die Erinyen, die vor den Blutgerichten Rache heischen gegen
1) Die Erinyen sind die Anklägerinnen des Orestes nicht nur in der Dichtung des Aeschylus (und darnach bei Euripides, Iph. Taur. 940 ff.), sondern auch nach der, aus anderen Quellen geflossenen Darstellung (in der die 12 Götter als Richter gelten) bei Demosthenes, Aristocrat. 66 (vgl. 74, und Dinarch. adv. Demosth. 87).
2) Es ist Art der Erinyen ἀπὸ ζῶντος ῥοφεῖν ἐρυϑρὸν ἐκ μελέων πέ- λανον Aesch. Eum. 264 f., vgl. 183 f.; 302; 305. Sie gleichen hierin völlig den „Vampyrn“, von denen Sagen namentlich slavischer Völker erzählen, den Tii der Polynesier u. s. w. Aber dies sind aus dem Grabe wieder- kehrende, blutsaugende Seelen.
3) Die Erinyen zu Orestes: ἐμοὶ τραφείς τε καὶ καϑιερωμένος. καὶ ζῶν με δαίσεις οὐδὲ πρὸς βωμῷ σφαγείς. Aesch. Eum. 304 f. Der Mutter- mörder ist divis parentum (d. h. ihren Manes) sacer, ihr Opferthier (ϑῦμα καταχϑονίου Διός Dionys. ant. 2, 10, 3), auch nach altgriechischem Glauben.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0262"n="246"/>
wie einst in dem vorbildlichen Process des Orestes, in dem<lb/>
sie die Klägerinnen waren <noteplace="foot"n="1)">Die Erinyen sind die Anklägerinnen des Orestes nicht nur in der<lb/>
Dichtung des Aeschylus (und darnach bei Euripides, <hirendition="#i">Iph. Taur.</hi> 940 ff.),<lb/>
sondern auch nach der, aus anderen Quellen geflossenen Darstellung<lb/>
(in der die 12 Götter als Richter gelten) bei Demosthenes, <hirendition="#i">Aristocrat.</hi> 66<lb/>
(vgl. 74, und Dinarch. <hirendition="#i">adv. Demosth.</hi> 87).</note>. In diesem athenischen Dienst<lb/>
hatten die Erinyen ihre wahre und ursprüngliche Natur noch<lb/>
nicht so weit verloren, dass sie etwa zu Hüterinnen des Rechtes<lb/>
schlechtweg geworden wären, als welche sie, in blassester Ver-<lb/>
allgemeinerung ihrer von Anfang viel enger bestimmten Art,<lb/>
bei Dichtern und Philosophen bisweilen dargestellt werden. Sie<lb/>
sind furchtbare Dämonen, in der Erdtiefe hausend, aus der<lb/>
sie durch die Flüche und Verwünschungen derjenigen herauf-<lb/>
beschworen werden, denen kein irdischer Rächer lebt. Daher<lb/>
sie vor Allem Mordthaten innerhalb der Familie rächen an<lb/>
dem, der eben <hirendition="#g">den</hi> erschlagen hat, dessen Bluträcher er, falls<lb/>
ein anderer ihn erlegt hätte, hätte sein müssen. Hat der Sohn<lb/>
den Vater oder die Mutter erschlagen, — wer soll da die<lb/>
Blutrache vollstrecken, die dem nächsten Verwandten des Ge-<lb/>
tödteten obliegt? Dieser nächste Verwandte ist der Mörder<lb/>
selbst. Dass dennoch dem Gemordeten seine Genugthuung<lb/>
werde, darüber wacht die Erinys des Vaters, der Mutter, die<lb/>
aus dem Seelenreich hervorbricht, den Mörder zu fangen. An<lb/>
seine Sohlen heftet sie sich, Tag und Nacht ihn ängstigend,<lb/>
vampyrgleich saugt sie ihm das Blut aus <noteplace="foot"n="2)">Es ist Art der Erinyen ἀπὸζῶντοςῥοφεῖνἐρυϑρὸνἐκμελέωνπέ-<lb/>λανον Aesch. <hirendition="#i">Eum.</hi> 264 f., vgl. 183 f.; 302; 305. Sie gleichen hierin völlig<lb/>
den „Vampyrn“, von denen Sagen namentlich slavischer Völker erzählen,<lb/>
den Tii der Polynesier u. s. w. Aber dies sind aus dem Grabe wieder-<lb/>
kehrende, blutsaugende <hirendition="#g">Seelen</hi>.</note>; er ist ihr verfallen<lb/>
als Opferthier <noteplace="foot"n="3)">Die Erinyen zu Orestes: ἐμοὶτραφείςτεκαὶκαϑιερωμένος. καὶζῶν<lb/>μεδαίσειςοὐδὲπρὸςβωμῷσφαγείς. Aesch. <hirendition="#i">Eum.</hi> 304 f. Der Mutter-<lb/>
mörder ist <hirendition="#i">divis parentum</hi> (d. h. ihren Manes) <hirendition="#i">sacer</hi>, ihr Opferthier (<hirendition="#g">ϑῦμα</hi><lb/>καταχϑονίουΔιός Dionys. <hirendition="#i">ant.</hi> 2, 10, 3), auch nach altgriechischem Glauben.</note>. Und noch im geordneten Rechtsstaate sind<lb/>
es die Erinyen, die vor den Blutgerichten Rache heischen gegen<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[246/0262]
wie einst in dem vorbildlichen Process des Orestes, in dem
sie die Klägerinnen waren 1). In diesem athenischen Dienst
hatten die Erinyen ihre wahre und ursprüngliche Natur noch
nicht so weit verloren, dass sie etwa zu Hüterinnen des Rechtes
schlechtweg geworden wären, als welche sie, in blassester Ver-
allgemeinerung ihrer von Anfang viel enger bestimmten Art,
bei Dichtern und Philosophen bisweilen dargestellt werden. Sie
sind furchtbare Dämonen, in der Erdtiefe hausend, aus der
sie durch die Flüche und Verwünschungen derjenigen herauf-
beschworen werden, denen kein irdischer Rächer lebt. Daher
sie vor Allem Mordthaten innerhalb der Familie rächen an
dem, der eben den erschlagen hat, dessen Bluträcher er, falls
ein anderer ihn erlegt hätte, hätte sein müssen. Hat der Sohn
den Vater oder die Mutter erschlagen, — wer soll da die
Blutrache vollstrecken, die dem nächsten Verwandten des Ge-
tödteten obliegt? Dieser nächste Verwandte ist der Mörder
selbst. Dass dennoch dem Gemordeten seine Genugthuung
werde, darüber wacht die Erinys des Vaters, der Mutter, die
aus dem Seelenreich hervorbricht, den Mörder zu fangen. An
seine Sohlen heftet sie sich, Tag und Nacht ihn ängstigend,
vampyrgleich saugt sie ihm das Blut aus 2); er ist ihr verfallen
als Opferthier 3). Und noch im geordneten Rechtsstaate sind
es die Erinyen, die vor den Blutgerichten Rache heischen gegen
1) Die Erinyen sind die Anklägerinnen des Orestes nicht nur in der
Dichtung des Aeschylus (und darnach bei Euripides, Iph. Taur. 940 ff.),
sondern auch nach der, aus anderen Quellen geflossenen Darstellung
(in der die 12 Götter als Richter gelten) bei Demosthenes, Aristocrat. 66
(vgl. 74, und Dinarch. adv. Demosth. 87).
2) Es ist Art der Erinyen ἀπὸ ζῶντος ῥοφεῖν ἐρυϑρὸν ἐκ μελέων πέ-
λανον Aesch. Eum. 264 f., vgl. 183 f.; 302; 305. Sie gleichen hierin völlig
den „Vampyrn“, von denen Sagen namentlich slavischer Völker erzählen,
den Tii der Polynesier u. s. w. Aber dies sind aus dem Grabe wieder-
kehrende, blutsaugende Seelen.
3) Die Erinyen zu Orestes: ἐμοὶ τραφείς τε καὶ καϑιερωμένος. καὶ ζῶν
με δαίσεις οὐδὲ πρὸς βωμῷ σφαγείς. Aesch. Eum. 304 f. Der Mutter-
mörder ist divis parentum (d. h. ihren Manes) sacer, ihr Opferthier (ϑῦμα
καταχϑονίου Διός Dionys. ant. 2, 10, 3), auch nach altgriechischem Glauben.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/262>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.