Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

thum war: unmittelbar nach dem Abscheiden der Heroen hebt
dem Dichter das Zeitalter an, in dem er selbst leben muss; wo
das Reich der Dichtung aufhört, hört auch jede weitere Ueber-
lieferung auf, es folgt ein leerer Raum, so dass der Schein
entsteht, als schliesse sich die unmittelbare Gegenwart sogleich
an. Man versteht also wohl, warum das heroische Geschlecht
das letzte ist vor dem fünften, dem der Dichter selbst ange-
hört, warum es nicht etwa dem (zeitlosen) ehernen Geschlecht
voraufgeht. Es schliesst sich dem ehernen Geschlechte auch
durchaus passend an in dem, was von einem Theil seiner Ange-
hörigen zu melden war in Bezug auf das, was hier den Dichter
vornehmlich interessirt, das Schicksal der Abgeschiedenen.
Ein Theil der gefallenen Heroen stirbt einfach, d. h. ohne
Zweifel, er geht in das Reich des Hades ein, wie die Ange-
hörigen des ehernen Geschlechts, wie die Helden der Ilias.
Wenn nun von denen, die "der Tod ergriff", andere unter-
schieden
werden, die zu den "Inseln der Seligen" gelangen, so
lässt sich nicht anders denken, als dass diese letzteren eben
nicht den Tod, d. h. Scheidung der Psyche vom sichtbaren Ich,
erlitten haben, sondern bei Leibes Leben entrückt worden sind.
Der Dichter denkt also an solche Beispiele, wie sie uns be-
gegnet sind in der Erzählung der Odyssee von Menelaos, der
Telegonie von Penelope, Telemachos und Telegonos. Diese
wenigen Ausnahmefälle würden ihm schwerlich so tiefen Eindruck
gemacht haben, dass er um ihretwillen eine ganze Classe von Ent-
rückten den einfach Gestorbenen entgegenstellen zu müssen ge-
meint hätte. Ohne allen Zweifel hatte er noch mehr Beispiele
derselben wunderbaren Art des Abscheidens aus dem Reiche der
Menschen, aber nicht aus dem Leben, vor Augen. Wir haben
gesehen, dass schon die Verse der Odyssee, in denen die Ent-
rückung des Menelaos vorausgesagt wird, auf andere, ältere
Dichtungen gleicher Art hinwiesen, und nach den in den Resten
der cyklischen Epen uns vorgekommenen Anzeichen glauben wir
ohne Schwierigkeit, dass die spätere Heldendichtung den Kreis der
Entrückten und Verklärten weit und weiter ausgedehnt haben mag.

Rohde, Seelencult. 7

thum war: unmittelbar nach dem Abscheiden der Heroen hebt
dem Dichter das Zeitalter an, in dem er selbst leben muss; wo
das Reich der Dichtung aufhört, hört auch jede weitere Ueber-
lieferung auf, es folgt ein leerer Raum, so dass der Schein
entsteht, als schliesse sich die unmittelbare Gegenwart sogleich
an. Man versteht also wohl, warum das heroische Geschlecht
das letzte ist vor dem fünften, dem der Dichter selbst ange-
hört, warum es nicht etwa dem (zeitlosen) ehernen Geschlecht
voraufgeht. Es schliesst sich dem ehernen Geschlechte auch
durchaus passend an in dem, was von einem Theil seiner Ange-
hörigen zu melden war in Bezug auf das, was hier den Dichter
vornehmlich interessirt, das Schicksal der Abgeschiedenen.
Ein Theil der gefallenen Heroen stirbt einfach, d. h. ohne
Zweifel, er geht in das Reich des Hades ein, wie die Ange-
hörigen des ehernen Geschlechts, wie die Helden der Ilias.
Wenn nun von denen, die „der Tod ergriff“, andere unter-
schieden
werden, die zu den „Inseln der Seligen“ gelangen, so
lässt sich nicht anders denken, als dass diese letzteren eben
nicht den Tod, d. h. Scheidung der Psyche vom sichtbaren Ich,
erlitten haben, sondern bei Leibes Leben entrückt worden sind.
Der Dichter denkt also an solche Beispiele, wie sie uns be-
gegnet sind in der Erzählung der Odyssee von Menelaos, der
Telegonie von Penelope, Telemachos und Telegonos. Diese
wenigen Ausnahmefälle würden ihm schwerlich so tiefen Eindruck
gemacht haben, dass er um ihretwillen eine ganze Classe von Ent-
rückten den einfach Gestorbenen entgegenstellen zu müssen ge-
meint hätte. Ohne allen Zweifel hatte er noch mehr Beispiele
derselben wunderbaren Art des Abscheidens aus dem Reiche der
Menschen, aber nicht aus dem Leben, vor Augen. Wir haben
gesehen, dass schon die Verse der Odyssee, in denen die Ent-
rückung des Menelaos vorausgesagt wird, auf andere, ältere
Dichtungen gleicher Art hinwiesen, und nach den in den Resten
der cyklischen Epen uns vorgekommenen Anzeichen glauben wir
ohne Schwierigkeit, dass die spätere Heldendichtung den Kreis der
Entrückten und Verklärten weit und weiter ausgedehnt haben mag.

Rohde, Seelencult. 7
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0113" n="97"/>
thum war: unmittelbar nach dem Abscheiden der Heroen hebt<lb/>
dem Dichter das Zeitalter an, in dem er selbst leben muss; wo<lb/>
das Reich der Dichtung aufhört, hört auch jede weitere Ueber-<lb/>
lieferung auf, es folgt ein leerer Raum, so dass der Schein<lb/>
entsteht, als schliesse sich die unmittelbare Gegenwart sogleich<lb/>
an. Man versteht also wohl, warum das heroische Geschlecht<lb/>
das letzte ist vor dem fünften, dem der Dichter selbst ange-<lb/>
hört, warum es nicht etwa dem (zeitlosen) ehernen Geschlecht<lb/>
voraufgeht. Es schliesst sich dem ehernen Geschlechte auch<lb/>
durchaus passend an in dem, was von einem Theil seiner Ange-<lb/>
hörigen zu melden war in Bezug auf das, was hier den Dichter<lb/>
vornehmlich interessirt, das Schicksal der Abgeschiedenen.<lb/>
Ein Theil der gefallenen Heroen stirbt einfach, d. h. ohne<lb/>
Zweifel, er geht in das Reich des Hades ein, wie die Ange-<lb/>
hörigen des ehernen Geschlechts, wie die Helden der Ilias.<lb/>
Wenn nun von denen, die &#x201E;der <hi rendition="#g">Tod</hi> ergriff&#x201C;, andere <hi rendition="#g">unter-<lb/>
schieden</hi> werden, die zu den &#x201E;Inseln der Seligen&#x201C; gelangen, so<lb/>
lässt sich nicht anders denken, als dass diese letzteren eben<lb/>
nicht den Tod, d. h. Scheidung der Psyche vom sichtbaren Ich,<lb/>
erlitten haben, sondern bei Leibes Leben entrückt worden sind.<lb/>
Der Dichter denkt also an solche Beispiele, wie sie uns be-<lb/>
gegnet sind in der Erzählung der Odyssee von Menelaos, der<lb/>
Telegonie von Penelope, Telemachos und Telegonos. Diese<lb/>
wenigen Ausnahmefälle würden ihm schwerlich so tiefen Eindruck<lb/>
gemacht haben, dass er um ihretwillen eine ganze Classe von Ent-<lb/>
rückten den einfach Gestorbenen entgegenstellen zu müssen ge-<lb/>
meint hätte. Ohne allen Zweifel hatte er noch mehr Beispiele<lb/>
derselben wunderbaren Art des Abscheidens aus dem Reiche der<lb/>
Menschen, aber nicht aus dem Leben, vor Augen. Wir haben<lb/>
gesehen, dass schon die Verse der Odyssee, in denen die Ent-<lb/>
rückung des Menelaos vorausgesagt wird, auf andere, ältere<lb/>
Dichtungen gleicher Art hinwiesen, und nach den in den Resten<lb/>
der cyklischen Epen uns vorgekommenen Anzeichen glauben wir<lb/>
ohne Schwierigkeit, dass die spätere Heldendichtung den Kreis der<lb/>
Entrückten und Verklärten weit und weiter ausgedehnt haben mag.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Rohde,</hi> Seelencult. 7</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[97/0113] thum war: unmittelbar nach dem Abscheiden der Heroen hebt dem Dichter das Zeitalter an, in dem er selbst leben muss; wo das Reich der Dichtung aufhört, hört auch jede weitere Ueber- lieferung auf, es folgt ein leerer Raum, so dass der Schein entsteht, als schliesse sich die unmittelbare Gegenwart sogleich an. Man versteht also wohl, warum das heroische Geschlecht das letzte ist vor dem fünften, dem der Dichter selbst ange- hört, warum es nicht etwa dem (zeitlosen) ehernen Geschlecht voraufgeht. Es schliesst sich dem ehernen Geschlechte auch durchaus passend an in dem, was von einem Theil seiner Ange- hörigen zu melden war in Bezug auf das, was hier den Dichter vornehmlich interessirt, das Schicksal der Abgeschiedenen. Ein Theil der gefallenen Heroen stirbt einfach, d. h. ohne Zweifel, er geht in das Reich des Hades ein, wie die Ange- hörigen des ehernen Geschlechts, wie die Helden der Ilias. Wenn nun von denen, die „der Tod ergriff“, andere unter- schieden werden, die zu den „Inseln der Seligen“ gelangen, so lässt sich nicht anders denken, als dass diese letzteren eben nicht den Tod, d. h. Scheidung der Psyche vom sichtbaren Ich, erlitten haben, sondern bei Leibes Leben entrückt worden sind. Der Dichter denkt also an solche Beispiele, wie sie uns be- gegnet sind in der Erzählung der Odyssee von Menelaos, der Telegonie von Penelope, Telemachos und Telegonos. Diese wenigen Ausnahmefälle würden ihm schwerlich so tiefen Eindruck gemacht haben, dass er um ihretwillen eine ganze Classe von Ent- rückten den einfach Gestorbenen entgegenstellen zu müssen ge- meint hätte. Ohne allen Zweifel hatte er noch mehr Beispiele derselben wunderbaren Art des Abscheidens aus dem Reiche der Menschen, aber nicht aus dem Leben, vor Augen. Wir haben gesehen, dass schon die Verse der Odyssee, in denen die Ent- rückung des Menelaos vorausgesagt wird, auf andere, ältere Dichtungen gleicher Art hinwiesen, und nach den in den Resten der cyklischen Epen uns vorgekommenen Anzeichen glauben wir ohne Schwierigkeit, dass die spätere Heldendichtung den Kreis der Entrückten und Verklärten weit und weiter ausgedehnt haben mag. Rohde, Seelencult. 7

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/113
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/113>, abgerufen am 02.05.2024.