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Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876.

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Aus den Schulen entlassen, trat diese Jugend nun aber in
ein Leben ein, dessen herrschenden Geist auf der einen Seite
die stärkste kirchliche Devotion und Werkheiligkeit, auf der andern
die größte Ausgelassenheit, Unbändigkeit und Entsittlichung
characterisirt. Der höhere Klerus, wie er größtentheils aus
den angesehensten Familien hervorging, theilte ganz die An-
schauungen, Sitten, Gewohnheiten, Leidenschaften und Fehler
der "Herren"; der niedere erhob sich in seiner Bildung und
seinen Lebensweisen nur wenig über die Masse des kleinsten
Adels und des gemeinen Volkes. An den Höfen der Herren
leiteten die Jesuiten, auf den Gütern der Schlachta die Bettel-
orden, Bernhardiner, Reformaten, Kapuciner u. a. das reli-
giöse Leben. Beide förderten in gleicher Weise mit allen
Mitteln, die ihnen ihre Stellung gab, die äußerste kirchliche
Devotion und Bigotterie, die Werkheiligkeit und den Fanatismus
gegen alle Ketzer, hatten aber nur selten den Muth der vor-
herrschenden Sittenlosigkeit ihrer Beichtkinder irgendwie nach-
drücklich entgegenzutreten, sondern gaben für alle Sünden ihnen
leicht Absolution und zeigten ihnen Glaubenseifer und Wohl-
thätigkeit gegen die Kirche als den sichersten Weg zur ewigen
Seligkeit 1). Demgemäß baute der Adel auch noch in dieser

Kollataj, Stan oswiecenia w Polsce w ostatnich latach panowania
Augusta III.
(Stand der Bildung in Polen) lesen, um eine lebendige
Anschauung von dem Zustande der Jesuitenschulen und der schreckenerre-
genden Verwahrlosung der Erziehung und Bildung der in diesen Zeiten
aufwachsenden Generationen des Adels zu gewinnen. Schon der Woiwode
von Posen und als solcher Senator der Republik, Stephan Garczynski,
hebt in einer 1751 gedruckten Schrift aufs nachdrücklichste hervor, daß
man die Wahrheit des Spruchs, der die dissidentische Schule in Frau-
stadt ziere: "fundamentum reipublicae recta adolescentum educatio",
"gänzlich vergessen und die Vernachlässigung der Kinder eine allge-
meine Sünde, die wir alle begehen" sei. Diese überhaupt höchst lehrreiche
Schrift führt den characteristischen Titel: Anatomia Rzeczypospolitej
Polskiej, synom oiczyzny ku przestrodze i poprawie tego, co z kluby
wypadlo,
d. h. Anatomie der Republik Polen, zur Warnung und Besse-
rung dessen, was aus den Fugen gegangen ist.
1) J. Szujski, Dzieje Polski IV, 272 sq. Auch der sehr kirch-
lich gesinnte Kalinka sagt in den Ostatnie lata Stanisl. Aug. I., p. 50:

Aus den Schulen entlaſſen, trat dieſe Jugend nun aber in
ein Leben ein, deſſen herrſchenden Geiſt auf der einen Seite
die ſtärkſte kirchliche Devotion und Werkheiligkeit, auf der andern
die größte Ausgelaſſenheit, Unbändigkeit und Entſittlichung
characteriſirt. Der höhere Klerus, wie er größtentheils aus
den angeſehenſten Familien hervorging, theilte ganz die An-
ſchauungen, Sitten, Gewohnheiten, Leidenſchaften und Fehler
der „Herren“; der niedere erhob ſich in ſeiner Bildung und
ſeinen Lebensweiſen nur wenig über die Maſſe des kleinſten
Adels und des gemeinen Volkes. An den Höfen der Herren
leiteten die Jeſuiten, auf den Gütern der Schlachta die Bettel-
orden, Bernhardiner, Reformaten, Kapuciner u. a. das reli-
giöſe Leben. Beide förderten in gleicher Weiſe mit allen
Mitteln, die ihnen ihre Stellung gab, die äußerſte kirchliche
Devotion und Bigotterie, die Werkheiligkeit und den Fanatismus
gegen alle Ketzer, hatten aber nur ſelten den Muth der vor-
herrſchenden Sittenloſigkeit ihrer Beichtkinder irgendwie nach-
drücklich entgegenzutreten, ſondern gaben für alle Sünden ihnen
leicht Abſolution und zeigten ihnen Glaubenseifer und Wohl-
thätigkeit gegen die Kirche als den ſicherſten Weg zur ewigen
Seligkeit 1). Demgemäß baute der Adel auch noch in dieſer

Kollątaj, Stan oświęcenia w Polsce w ostatnich latach panowania
Augusta III.
(Stand der Bildung in Polen) leſen, um eine lebendige
Anſchauung von dem Zuſtande der Jeſuitenſchulen und der ſchreckenerre-
genden Verwahrloſung der Erziehung und Bildung der in dieſen Zeiten
aufwachſenden Generationen des Adels zu gewinnen. Schon der Woiwode
von Poſen und als ſolcher Senator der Republik, Stephan Garczynski,
hebt in einer 1751 gedruckten Schrift aufs nachdrücklichſte hervor, daß
man die Wahrheit des Spruchs, der die diſſidentiſche Schule in Frau-
ſtadt ziere: „fundamentum reipublicae recta adolescentum educatio“,
„gänzlich vergeſſen und die Vernachläſſigung der Kinder eine allge-
meine Sünde, die wir alle begehen“ ſei. Dieſe überhaupt höchſt lehrreiche
Schrift führt den characteriſtiſchen Titel: Anatomia Rzeczypospolitej
Polskiej, synom oiczyzny ku przestrodze i poprawie tego, co z kluby
wypadlo,
d. h. Anatomie der Republik Polen, zur Warnung und Beſſe-
rung deſſen, was aus den Fugen gegangen iſt.
1) J. Szujski, Dzieje Polski IV, 272 sq. Auch der ſehr kirch-
lich geſinnte Kalinka ſagt in den Ostatnie lata Stanisl. Aug. I., p. 50:
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[13/0027] Aus den Schulen entlaſſen, trat dieſe Jugend nun aber in ein Leben ein, deſſen herrſchenden Geiſt auf der einen Seite die ſtärkſte kirchliche Devotion und Werkheiligkeit, auf der andern die größte Ausgelaſſenheit, Unbändigkeit und Entſittlichung characteriſirt. Der höhere Klerus, wie er größtentheils aus den angeſehenſten Familien hervorging, theilte ganz die An- ſchauungen, Sitten, Gewohnheiten, Leidenſchaften und Fehler der „Herren“; der niedere erhob ſich in ſeiner Bildung und ſeinen Lebensweiſen nur wenig über die Maſſe des kleinſten Adels und des gemeinen Volkes. An den Höfen der Herren leiteten die Jeſuiten, auf den Gütern der Schlachta die Bettel- orden, Bernhardiner, Reformaten, Kapuciner u. a. das reli- giöſe Leben. Beide förderten in gleicher Weiſe mit allen Mitteln, die ihnen ihre Stellung gab, die äußerſte kirchliche Devotion und Bigotterie, die Werkheiligkeit und den Fanatismus gegen alle Ketzer, hatten aber nur ſelten den Muth der vor- herrſchenden Sittenloſigkeit ihrer Beichtkinder irgendwie nach- drücklich entgegenzutreten, ſondern gaben für alle Sünden ihnen leicht Abſolution und zeigten ihnen Glaubenseifer und Wohl- thätigkeit gegen die Kirche als den ſicherſten Weg zur ewigen Seligkeit 1). Demgemäß baute der Adel auch noch in dieſer 2) 1) J. Szujski, Dzieje Polski IV, 272 sq. Auch der ſehr kirch- lich geſinnte Kalinka ſagt in den Ostatnie lata Stanisl. Aug. I., p. 50: 2) Kollątaj, Stan oświęcenia w Polsce w ostatnich latach panowania Augusta III. (Stand der Bildung in Polen) leſen, um eine lebendige Anſchauung von dem Zuſtande der Jeſuitenſchulen und der ſchreckenerre- genden Verwahrloſung der Erziehung und Bildung der in dieſen Zeiten aufwachſenden Generationen des Adels zu gewinnen. Schon der Woiwode von Poſen und als ſolcher Senator der Republik, Stephan Garczynski, hebt in einer 1751 gedruckten Schrift aufs nachdrücklichſte hervor, daß man die Wahrheit des Spruchs, der die diſſidentiſche Schule in Frau- ſtadt ziere: „fundamentum reipublicae recta adolescentum educatio“, „gänzlich vergeſſen und die Vernachläſſigung der Kinder eine allge- meine Sünde, die wir alle begehen“ ſei. Dieſe überhaupt höchſt lehrreiche Schrift führt den characteriſtiſchen Titel: Anatomia Rzeczypospolitej Polskiej, synom oiczyzny ku przestrodze i poprawie tego, co z kluby wypadlo, d. h. Anatomie der Republik Polen, zur Warnung und Beſſe- rung deſſen, was aus den Fugen gegangen iſt.

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Zitationshilfe: Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/27>, abgerufen am 29.03.2024.