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Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876.

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Literatur gehen unaufhaltsam rückwärts. Die erstere sinkt sehr
rasch auf einen Grad der Unwissenheit und der Unbildung in
der Masse des Adels, die ihres Gleichen nicht hat 1); die an-
dere verfällt in eine Geschmacklosigkeit und Barbarei, welche
im grellsten Contrast mit dem geistigen Aufschwung steht, der
sonst allgemein das 18. Jahrhundert characterisirt. Die Je-
suiten, in deren Händen der Unterricht und die Erziehung der
adlichen Jugend weit überwiegend lag, in deren Orden der le-
bendig aufstrebende Geist, durch den er emporgekommen, er-
loschen war, unterrichteten nach ihrer äußerlichen Methode fast
ausschließlich nur Religion und Latein, und erzogen nach einem
pädagogischen System, welches nur schädlich und verderblich auf die
Moralität ihrer Schüler wirken konnte. Ihr Haupthebel war
in den untern Klassen der Kantschu, in den obern Spionerie,
Angeberei, Stachelung des Ehrgeizes und Nachsicht gegen die
Ausbrüche des Übermuthes dieser Jugend, welche von Kindes-
beinen das lebendigste Bewußtsein in sich trug, daß ein polni-
scher Edelmann über alle Menschenkinder hoch erhaben und
seine persönliche Freiheit schrankenlos und unantastbar sei. Er-
wägt man hiezu noch, wie lax und casuistisch die Moral war,
die sie lehrten, welchen Werth sie auf den äußerlichen Werkdienst
und den Gehorsam gegen die Kirche legten, so begreift man
leicht, welche Frucht dieser Unterricht und diese Erziehung für
das spätere Leben im Durchschnitt tragen mußten und trugen 2).

1) Kozmian erzählt in seinen Pamietn. I, 119--120: "Ich er-
innere mich, daß in Opol bei der Fürstin Kastellanin Lubomirski (sie war eine ge-
borene Krasinska und Tante der mit dem Sohne Augusts III., Prinzen
Carl, verheiratheten Krasinska) ein recht ordentlicher Mann und Senator,
der Woiwode von Lublin, Hryniewiecki, als in meiner Gegenwart der
gebildete Prälat Kulagowski, der bei der Fürstin Lector war, aus der
Zeitung etwas von den Dardanellen vorlas, fragte: ,Was sind das, die
Dardanellen?' Die Fürstin lächelte und Kulagowski mußte es ihm er-
klären. Solche bei einem Senator unverzeihliche Ignoranz in den ersten
Schulkenntnissen war bei den alten Polen gang und gebe."
2) Man muß die Denkwürdigkeiten von Karpinski, Wybicki u. a.,
vor allem Kitowicz, Opis obyczajow i Zwyczajow za panowania
Augusta III.
(Schilderungen der Sitten und Gewohnheiten), sowie

Literatur gehen unaufhaltſam rückwärts. Die erſtere ſinkt ſehr
raſch auf einen Grad der Unwiſſenheit und der Unbildung in
der Maſſe des Adels, die ihres Gleichen nicht hat 1); die an-
dere verfällt in eine Geſchmackloſigkeit und Barbarei, welche
im grellſten Contraſt mit dem geiſtigen Aufſchwung ſteht, der
ſonſt allgemein das 18. Jahrhundert characteriſirt. Die Je-
ſuiten, in deren Händen der Unterricht und die Erziehung der
adlichen Jugend weit überwiegend lag, in deren Orden der le-
bendig aufſtrebende Geiſt, durch den er emporgekommen, er-
loſchen war, unterrichteten nach ihrer äußerlichen Methode faſt
ausſchließlich nur Religion und Latein, und erzogen nach einem
pädagogiſchen Syſtem, welches nur ſchädlich und verderblich auf die
Moralität ihrer Schüler wirken konnte. Ihr Haupthebel war
in den untern Klaſſen der Kantſchu, in den obern Spionerie,
Angeberei, Stachelung des Ehrgeizes und Nachſicht gegen die
Ausbrüche des Übermuthes dieſer Jugend, welche von Kindes-
beinen das lebendigſte Bewußtſein in ſich trug, daß ein polni-
ſcher Edelmann über alle Menſchenkinder hoch erhaben und
ſeine perſönliche Freiheit ſchrankenlos und unantaſtbar ſei. Er-
wägt man hiezu noch, wie lax und caſuiſtiſch die Moral war,
die ſie lehrten, welchen Werth ſie auf den äußerlichen Werkdienſt
und den Gehorſam gegen die Kirche legten, ſo begreift man
leicht, welche Frucht dieſer Unterricht und dieſe Erziehung für
das ſpätere Leben im Durchſchnitt tragen mußten und trugen 2).

1) Koz̀mian erzählt in ſeinen Pamiętn. I, 119—120: „Ich er-
innere mich, daß in Opol bei der Fürſtin Kaſtellanin Lubomirski (ſie war eine ge-
borene Kraſinska und Tante der mit dem Sohne Auguſts III., Prinzen
Carl, verheiratheten Kraſinska) ein recht ordentlicher Mann und Senator,
der Woiwode von Lublin, Hryniewiecki, als in meiner Gegenwart der
gebildete Prälat Kulagowski, der bei der Fürſtin Lector war, aus der
Zeitung etwas von den Dardanellen vorlas, fragte: ‚Was ſind das, die
Dardanellen?‘ Die Fürſtin lächelte und Kulagowski mußte es ihm er-
klären. Solche bei einem Senator unverzeihliche Ignoranz in den erſten
Schulkenntniſſen war bei den alten Polen gang und gebe.“
2) Man muß die Denkwürdigkeiten von Karpinski, Wybicki u. a.,
vor allem Kitowicz, Opis obyczajow i Zwyczajow za panowania
Augusta III.
(Schilderungen der Sitten und Gewohnheiten), ſowie
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[12/0026] Literatur gehen unaufhaltſam rückwärts. Die erſtere ſinkt ſehr raſch auf einen Grad der Unwiſſenheit und der Unbildung in der Maſſe des Adels, die ihres Gleichen nicht hat 1); die an- dere verfällt in eine Geſchmackloſigkeit und Barbarei, welche im grellſten Contraſt mit dem geiſtigen Aufſchwung ſteht, der ſonſt allgemein das 18. Jahrhundert characteriſirt. Die Je- ſuiten, in deren Händen der Unterricht und die Erziehung der adlichen Jugend weit überwiegend lag, in deren Orden der le- bendig aufſtrebende Geiſt, durch den er emporgekommen, er- loſchen war, unterrichteten nach ihrer äußerlichen Methode faſt ausſchließlich nur Religion und Latein, und erzogen nach einem pädagogiſchen Syſtem, welches nur ſchädlich und verderblich auf die Moralität ihrer Schüler wirken konnte. Ihr Haupthebel war in den untern Klaſſen der Kantſchu, in den obern Spionerie, Angeberei, Stachelung des Ehrgeizes und Nachſicht gegen die Ausbrüche des Übermuthes dieſer Jugend, welche von Kindes- beinen das lebendigſte Bewußtſein in ſich trug, daß ein polni- ſcher Edelmann über alle Menſchenkinder hoch erhaben und ſeine perſönliche Freiheit ſchrankenlos und unantaſtbar ſei. Er- wägt man hiezu noch, wie lax und caſuiſtiſch die Moral war, die ſie lehrten, welchen Werth ſie auf den äußerlichen Werkdienſt und den Gehorſam gegen die Kirche legten, ſo begreift man leicht, welche Frucht dieſer Unterricht und dieſe Erziehung für das ſpätere Leben im Durchſchnitt tragen mußten und trugen 2). 1) Koz̀mian erzählt in ſeinen Pamiętn. I, 119—120: „Ich er- innere mich, daß in Opol bei der Fürſtin Kaſtellanin Lubomirski (ſie war eine ge- borene Kraſinska und Tante der mit dem Sohne Auguſts III., Prinzen Carl, verheiratheten Kraſinska) ein recht ordentlicher Mann und Senator, der Woiwode von Lublin, Hryniewiecki, als in meiner Gegenwart der gebildete Prälat Kulagowski, der bei der Fürſtin Lector war, aus der Zeitung etwas von den Dardanellen vorlas, fragte: ‚Was ſind das, die Dardanellen?‘ Die Fürſtin lächelte und Kulagowski mußte es ihm er- klären. Solche bei einem Senator unverzeihliche Ignoranz in den erſten Schulkenntniſſen war bei den alten Polen gang und gebe.“ 2) Man muß die Denkwürdigkeiten von Karpinski, Wybicki u. a., vor allem Kitowicz, Opis obyczajow i Zwyczajow za panowania Augusta III. (Schilderungen der Sitten und Gewohnheiten), ſowie

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Zitationshilfe: Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/26>, abgerufen am 19.04.2024.