zusetzen haben. Welche Bewandnis es nun damit haben mag, dass wir diese doch offenbar specifisch attische Sage im ionischen Epos und in der sicilischen Lyrik finden, und ob nicht hier attische Interpolation im Spiel ist, dort aus der bildlichen Tra- dition eine dem Stesichoros fremde Episode in die Darstellung aufgenommen ist, muss hier unerörtert und somit die litterarische Quelle für diese Darstellung der attischen Vasen unbestimmt bleiben.
Wichtiger wäre es, wenn sich entscheiden liesse, wo die poetische Quelle für die beiden andern im fünften Jahrhun- dert zu den alten Typen neu hinzutretenden Episoden zu suchen sei, die Flucht der Helena zu einem Götterbilde und das mannhafte Eingreifen der Andromache. Über die erste Episode haben vor kurzem Klein A. d. I. 1877 p. 258 s. und Brizio A. d. I. 1878 p. 61 ausführlich gesprochen. Letztere Untersuchung begeht den methodischen Fehler, dass sie für jede Nüancierung des Typus, die aus dem freien Schalten der einzel- nen Künstler entsteht, eine besondere poetische Quelle voraus- setzt; erstere Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass wenig- stens für die Version, dass Kassandra und Helena beide zum Palladium flüchten, die kleine Ilias die Quelle sei, ein Re- sultat, das lediglich auf der Schlussfolgerung beruht, dass, während die übrigen Dichter andere Versionen befolgen, von der kleinen Ilias eine abweichende Erzählung nicht bezeugt ist -- weil wir nämlich überhaupt nicht wissen, wie dort der Vorgang berichtet wurde.
Die Möglichkeit, dass einzelne Episoden des Epos erst im fünften Jahrhundert zum ersten Male bildlich gestaltet worden sind, ist an sich gewiss zuzugeben; für die Ilias ist sie einfach That- sache. Allein es ist doch sehr zu bemerken, wenn das Motiv, dass Helena zu einem Heiligtum flieht, erst für die Lyrik ausdrück- lich bezeugt ist, zunächst für Ibykos von Rhegion: schol. Euripid. Andromache 631 ameinon okonometai ta peri Ibukon; eis gar Aphrodites naon kataluei e Elene, kakeithen dialegetai to Mene- lao, o d up erotos aphiesi to xiphos27). Es ist zu beachten, dass
27) S. Wilamowitz de Rhesi scholiis p. 5.
zusetzen haben. Welche Bewandnis es nun damit haben mag, daſs wir diese doch offenbar specifisch attische Sage im ionischen Epos und in der sicilischen Lyrik finden, und ob nicht hier attische Interpolation im Spiel ist, dort aus der bildlichen Tra- dition eine dem Stesichoros fremde Episode in die Darstellung aufgenommen ist, muſs hier unerörtert und somit die litterarische Quelle für diese Darstellung der attischen Vasen unbestimmt bleiben.
Wichtiger wäre es, wenn sich entscheiden lieſse, wo die poetische Quelle für die beiden andern im fünften Jahrhun- dert zu den alten Typen neu hinzutretenden Episoden zu suchen sei, die Flucht der Helena zu einem Götterbilde und das mannhafte Eingreifen der Andromache. Über die erste Episode haben vor kurzem Klein A. d. I. 1877 p. 258 s. und Brizio A. d. I. 1878 p. 61 ausführlich gesprochen. Letztere Untersuchung begeht den methodischen Fehler, daſs sie für jede Nüancierung des Typus, die aus dem freien Schalten der einzel- nen Künstler entsteht, eine besondere poetische Quelle voraus- setzt; erstere Untersuchung kommt zu dem Schluſs, daſs wenig- stens für die Version, daſs Kassandra und Helena beide zum Palladium flüchten, die kleine Ilias die Quelle sei, ein Re- sultat, das lediglich auf der Schluſsfolgerung beruht, daſs, während die übrigen Dichter andere Versionen befolgen, von der kleinen Ilias eine abweichende Erzählung nicht bezeugt ist — weil wir nämlich überhaupt nicht wissen, wie dort der Vorgang berichtet wurde.
Die Möglichkeit, daſs einzelne Episoden des Epos erst im fünften Jahrhundert zum ersten Male bildlich gestaltet worden sind, ist an sich gewiſs zuzugeben; für die Ilias ist sie einfach That- sache. Allein es ist doch sehr zu bemerken, wenn das Motiv, daſs Helena zu einem Heiligtum flieht, erst für die Lyrik ausdrück- lich bezeugt ist, zunächst für Ibykos von Rhegion: schol. Euripid. Andromache 631 ἄμεινον ᾠκονόμηται τὰ περὶ Ἴβυκον· εἰς γὰρ Ἀφροδίτης ναὸν καταλύει ἡ Ἑλένη, κἀκεῖϑεν διαλέγεται τῷ Μενε- λάῳ, ὁ δ̕ ὑπ̕ ἔρωτος ἀφίησι τὸ ξίφος27). Es ist zu beachten, daſs
27) S. Wilamowitz de Rhesi scholiis p. 5.
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zusetzen haben. Welche Bewandnis es nun damit haben mag,
daſs wir diese doch offenbar specifisch attische Sage im ionischen
Epos und in der sicilischen Lyrik finden, und ob nicht hier
attische Interpolation im Spiel ist, dort aus der bildlichen Tra-
dition eine dem Stesichoros fremde Episode in die Darstellung
aufgenommen ist, muſs hier unerörtert und somit die litterarische
Quelle für diese Darstellung der attischen Vasen unbestimmt bleiben.
Wichtiger wäre es, wenn sich entscheiden lieſse, wo die
poetische Quelle für die beiden andern im fünften Jahrhun-
dert zu den alten Typen neu hinzutretenden Episoden zu
suchen sei, die Flucht der Helena zu einem Götterbilde und
das mannhafte Eingreifen der Andromache. Über die erste
Episode haben vor kurzem Klein A. d. I. 1877 p. 258 s. und
Brizio A. d. I. 1878 p. 61 ausführlich gesprochen. Letztere
Untersuchung begeht den methodischen Fehler, daſs sie für jede
Nüancierung des Typus, die aus dem freien Schalten der einzel-
nen Künstler entsteht, eine besondere poetische Quelle voraus-
setzt; erstere Untersuchung kommt zu dem Schluſs, daſs wenig-
stens für die Version, daſs Kassandra und Helena beide zum
Palladium flüchten, die kleine Ilias die Quelle sei, ein Re-
sultat, das lediglich auf der Schluſsfolgerung beruht, daſs,
während die übrigen Dichter andere Versionen befolgen, von der
kleinen Ilias eine abweichende Erzählung nicht bezeugt ist —
weil wir nämlich überhaupt nicht wissen, wie dort der Vorgang
berichtet wurde.
Die Möglichkeit, daſs einzelne Episoden des Epos erst im
fünften Jahrhundert zum ersten Male bildlich gestaltet worden sind,
ist an sich gewiſs zuzugeben; für die Ilias ist sie einfach That-
sache. Allein es ist doch sehr zu bemerken, wenn das Motiv, daſs
Helena zu einem Heiligtum flieht, erst für die Lyrik ausdrück-
lich bezeugt ist, zunächst für Ibykos von Rhegion: schol. Euripid.
Andromache 631 ἄμεινον ᾠκονόμηται τὰ περὶ Ἴβυκον· εἰς γὰρ
Ἀφροδίτης ναὸν καταλύει ἡ Ἑλένη, κἀκεῖϑεν διαλέγεται τῷ Μενε-
λάῳ, ὁ δ̕ ὑπ̕ ἔρωτος ἀφίησι τὸ ξίφος 27). Es ist zu beachten, daſs
27) S. Wilamowitz de Rhesi scholiis p. 5.
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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/90>, abgerufen am 16.02.2025.
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