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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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aber das Bild gehört der ersten, das Stück zweifellos der zweiten
Hälfte des fünften Jahrhunderts an. Noch augenscheinlicher ist
dies in einem anderen Fall, wo der ionische Künstler nicht eine
attische, sondern eine Sage seiner Heimat dargestellt und dadurch
vielleicht erst in Athen eingebürgert hat. In irgend einem Gebäude
Athens -- in welchem wissen wir nicht, jedoch sicher nicht in
den Propyläen -- hatte Polygnot den Mythos von Achill unter
den Töchtern des Lykomedes dargestellt, einen Mythos, der ein
durchaus epichorisches Gepräge hat und aus dem Lokalpatriotis-
mus der Inselgriechen, zunächst der Skyrier, entsprungen ist,
welcher sich gegen die Überlieferung von einer feindlichen Erobe-
rung der Insel durch Achilleus, wie sie das Epos kannte, auflehnte,
anderseits aber um des Neoptolemos willen den Aufenthalt des
Achilleus auf Skyros beibehalten und nur anders motivieren musste.
Hier ist es also auch für den skeptischsten Forscher klar, dass
die Tragödie des Euripides Skurioi nicht nur später, -- das ver-
steht sich bei einer Euripideischen Tragödie von selbst 40) -- son-
dern in direkter Abhängigkeit von Polygnot gedichtet ist.


40) Ein gewiss schon von Vielen stillschweigend korrigierter Irr-
tum ist die von Heyne und Brunck aufgestellte, von Welcker übernom-
mene Ansicht, dass die Skurioi des Sophokles denselben Mythos behandelt
hätten. Wir sind selten in der glücklichen Lage unter nur zwei grösseren
Fragmenten eines Stückes ein so entscheidendes zu haben, wie das bei
Stobaeus (Floril. 124, 17. fr. 510 Nauck.) erhaltene. Wer kann so sprechen,
als Neoptolemos zu Phoinix, der seinem Schmerz um Achilleus in übermässi-
gen Klagen Luft macht, und wie männlich schön sind die Worte:
all ei men en klaiousin iasthai kaka
kai ton thanonta dakruois anistanai,
o khrusos esson ktema tou klaiein an en.
nun d, o geraie, taut anenutos ekhei
ton en tapho kruphthenta pros to phos agein;
kamoi gar an pater ge dakruon kharin
anekt an eis phos.
"Nicht klagen um ihn will ich", so mag es weiter geheissen haben, "sondern
ihn rächen." Welckers Annahme, dass dem Lykomedes sein einziger Sohn
gestorben, ist eben so unglücklich wie willkürlich. Das Stück behandelte
also, wie schon Tyrwhitt (zu Aristot. Poet. p. 191) richtig gesehen, die Ab-
holung des Neoptolemos von Skyros.

aber das Bild gehört der ersten, das Stück zweifellos der zweiten
Hälfte des fünften Jahrhunderts an. Noch augenscheinlicher ist
dies in einem anderen Fall, wo der ionische Künstler nicht eine
attische, sondern eine Sage seiner Heimat dargestellt und dadurch
vielleicht erst in Athen eingebürgert hat. In irgend einem Gebäude
Athens — in welchem wissen wir nicht, jedoch sicher nicht in
den Propyläen — hatte Polygnot den Mythos von Achill unter
den Töchtern des Lykomedes dargestellt, einen Mythos, der ein
durchaus epichorisches Gepräge hat und aus dem Lokalpatriotis-
mus der Inselgriechen, zunächst der Skyrier, entsprungen ist,
welcher sich gegen die Überlieferung von einer feindlichen Erobe-
rung der Insel durch Achilleus, wie sie das Epos kannte, auflehnte,
anderseits aber um des Neoptolemos willen den Aufenthalt des
Achilleus auf Skyros beibehalten und nur anders motivieren muſste.
Hier ist es also auch für den skeptischsten Forscher klar, daſs
die Tragödie des Euripides Σκύριοι nicht nur später, — das ver-
steht sich bei einer Euripideischen Tragödie von selbst 40) — son-
dern in direkter Abhängigkeit von Polygnot gedichtet ist.


40) Ein gewiſs schon von Vielen stillschweigend korrigierter Irr-
tum ist die von Heyne und Brunck aufgestellte, von Welcker übernom-
mene Ansicht, dass die Σκύριοι des Sophokles denselben Mythos behandelt
hätten. Wir sind selten in der glücklichen Lage unter nur zwei gröſseren
Fragmenten eines Stückes ein so entscheidendes zu haben, wie das bei
Stobaeus (Floril. 124, 17. fr. 510 Nauck.) erhaltene. Wer kann so sprechen,
als Neoptolemos zu Phoinix, der seinem Schmerz um Achilleus in übermäſsi-
gen Klagen Luft macht, und wie männlich schön sind die Worte:
ἀλλ̕ εἰ μὲν ἦν κλαίουσιν ἰᾶσϑαι κακά
καὶ τὸν ϑανόντα δακρύοις ἀνιστάναι,
ὁ χρυσὸς ἧσσον κτῆμα τοῦ κλαίειν ἄν ἦν.
νῦν δ̕, ὦ γεραιέ, ταῦτ̕ ἀνηνύτως ἔχει
τὸν ἐν τάφῳ κρυφϑέντα πρὸς τὸ φῶς ἄγειν·
κἀμοὶ γὰρ ἂν πατήρ γε δακρύων χάριν
ἀνῆκτ̕ ἂν εἰς φῶς.
„Nicht klagen um ihn will ich“, so mag es weiter geheiſsen haben, „sondern
ihn rächen.“ Welckers Annahme, daſs dem Lykomedes sein einziger Sohn
gestorben, ist eben so unglücklich wie willkürlich. Das Stück behandelte
also, wie schon Tyrwhitt (zu Aristot. Poet. p. 191) richtig gesehen, die Ab-
holung des Neoptolemos von Skyros.
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[34/0048] aber das Bild gehört der ersten, das Stück zweifellos der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts an. Noch augenscheinlicher ist dies in einem anderen Fall, wo der ionische Künstler nicht eine attische, sondern eine Sage seiner Heimat dargestellt und dadurch vielleicht erst in Athen eingebürgert hat. In irgend einem Gebäude Athens — in welchem wissen wir nicht, jedoch sicher nicht in den Propyläen — hatte Polygnot den Mythos von Achill unter den Töchtern des Lykomedes dargestellt, einen Mythos, der ein durchaus epichorisches Gepräge hat und aus dem Lokalpatriotis- mus der Inselgriechen, zunächst der Skyrier, entsprungen ist, welcher sich gegen die Überlieferung von einer feindlichen Erobe- rung der Insel durch Achilleus, wie sie das Epos kannte, auflehnte, anderseits aber um des Neoptolemos willen den Aufenthalt des Achilleus auf Skyros beibehalten und nur anders motivieren muſste. Hier ist es also auch für den skeptischsten Forscher klar, daſs die Tragödie des Euripides Σκύριοι nicht nur später, — das ver- steht sich bei einer Euripideischen Tragödie von selbst 40) — son- dern in direkter Abhängigkeit von Polygnot gedichtet ist. 40) Ein gewiſs schon von Vielen stillschweigend korrigierter Irr- tum ist die von Heyne und Brunck aufgestellte, von Welcker übernom- mene Ansicht, dass die Σκύριοι des Sophokles denselben Mythos behandelt hätten. Wir sind selten in der glücklichen Lage unter nur zwei gröſseren Fragmenten eines Stückes ein so entscheidendes zu haben, wie das bei Stobaeus (Floril. 124, 17. fr. 510 Nauck.) erhaltene. Wer kann so sprechen, als Neoptolemos zu Phoinix, der seinem Schmerz um Achilleus in übermäſsi- gen Klagen Luft macht, und wie männlich schön sind die Worte: ἀλλ̕ εἰ μὲν ἦν κλαίουσιν ἰᾶσϑαι κακά καὶ τὸν ϑανόντα δακρύοις ἀνιστάναι, ὁ χρυσὸς ἧσσον κτῆμα τοῦ κλαίειν ἄν ἦν. νῦν δ̕, ὦ γεραιέ, ταῦτ̕ ἀνηνύτως ἔχει τὸν ἐν τάφῳ κρυφϑέντα πρὸς τὸ φῶς ἄγειν· κἀμοὶ γὰρ ἂν πατήρ γε δακρύων χάριν ἀνῆκτ̕ ἂν εἰς φῶς. „Nicht klagen um ihn will ich“, so mag es weiter geheiſsen haben, „sondern ihn rächen.“ Welckers Annahme, daſs dem Lykomedes sein einziger Sohn gestorben, ist eben so unglücklich wie willkürlich. Das Stück behandelte also, wie schon Tyrwhitt (zu Aristot. Poet. p. 191) richtig gesehen, die Ab- holung des Neoptolemos von Skyros.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/48>, abgerufen am 20.04.2024.