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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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stellung, dass die Götter menschlichen Leidenschaften unterworfen
seien und Liebe und Hass gegen die Sterblichen empfinden,
nahm Stesichoros keinen Anstoss und behielt daher unbedenklich
die ältere Fassung der Sage bei, nach welcher Zeus, in Liebe
zu Semele entbrannt und eifersüchtig auf Aktaion, der auch um
Semele wirbt, der Artemis befiehlt, den unbequemen Neben-
buhler aus dem Weg zu räumen. Aber den weiteren Bericht
der Sage, dass Artemis den Aktaion in einen Hirsch verwandelt,
den seine eigenen Jagdhunde zerreissen, verwarf Stesichoros.
Denn ganz unglaublich schien es ihm, dass ein Mensch in ein
Tier verwandelt werden könne. Daher erzählte er, Artemis hätte
dem Aktaion nur das Fell eines Hirsches um die Schulter ge-
worfen, und die Hunde, hierdurch getäuscht, hätten den Aktaion
für einen Hirsch gehalten und zerrissen 26).

Dass nun diese Stesichoreischen Neubildungen der Sagen
auch auf die Kunstdarstellungen eingewirkt haben, lässt sich ge-
rade an dem eben besprochenen Beispiel zeigen. Eine Metope
des jüngsten Tempels von Selinunt, dessen Erbauung sicher in
die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts fällt, stellt Aktaion
dar, der das Hirschfell um die Schultern, das Hirschhaupt
über den Hinterkopf gezogen, sich vergebens der an ihm
emporspringenden Hunde zu erwehren sucht 27). Hier haben
wir die Aktaionsage in der Fassung des Stesichoros, denn bei
der ganz eigentümlichen Natur derselben wird niemand be-
zweifeln wollen, dass das Gedicht des Stesichoros im ganz
eigentlichen Sinne die Quelle für diese Darstellung ist; da
aber dem Verfertiger einer dekorativen Tempelskulptur gewiss
nichts ferner liegt, als die Absicht, ein bestimmtes Gedicht illustrie-
ren zu wollen, da vielmehr an solchen Stellen nur wirklich volks-
tümliche Sagen und zwar in volkstümlicher Fassung dargestellt zu

26) Paus. IX 2. 3 = Stesichoros fr. 68 Bergk.
27) Dies hat Serradifalco erkannt Antichita della Sicilia II T. XXXII p. 65.
Vgl. Benndorf Metopen v. Selinunt. Taf. IX S. 57. Auch auf einer roth-
figurigen attischen Vase begegnen wir derselben Stesichoreischen Sagenversion.
S. Micali Storia C 1.

stellung, daſs die Götter menschlichen Leidenschaften unterworfen
seien und Liebe und Haſs gegen die Sterblichen empfinden,
nahm Stesichoros keinen Anstoſs und behielt daher unbedenklich
die ältere Fassung der Sage bei, nach welcher Zeus, in Liebe
zu Semele entbrannt und eifersüchtig auf Aktaion, der auch um
Semele wirbt, der Artemis befiehlt, den unbequemen Neben-
buhler aus dem Weg zu räumen. Aber den weiteren Bericht
der Sage, daſs Artemis den Aktaion in einen Hirsch verwandelt,
den seine eigenen Jagdhunde zerreiſsen, verwarf Stesichoros.
Denn ganz unglaublich schien es ihm, daſs ein Mensch in ein
Tier verwandelt werden könne. Daher erzählte er, Artemis hätte
dem Aktaion nur das Fell eines Hirsches um die Schulter ge-
worfen, und die Hunde, hierdurch getäuscht, hätten den Aktaion
für einen Hirsch gehalten und zerrissen 26).

Daſs nun diese Stesichoreischen Neubildungen der Sagen
auch auf die Kunstdarstellungen eingewirkt haben, läſst sich ge-
rade an dem eben besprochenen Beispiel zeigen. Eine Metope
des jüngsten Tempels von Selinunt, dessen Erbauung sicher in
die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts fällt, stellt Aktaion
dar, der das Hirschfell um die Schultern, das Hirschhaupt
über den Hinterkopf gezogen, sich vergebens der an ihm
emporspringenden Hunde zu erwehren sucht 27). Hier haben
wir die Aktaionsage in der Fassung des Stesichoros, denn bei
der ganz eigentümlichen Natur derselben wird niemand be-
zweifeln wollen, daſs das Gedicht des Stesichoros im ganz
eigentlichen Sinne die Quelle für diese Darstellung ist; da
aber dem Verfertiger einer dekorativen Tempelskulptur gewiſs
nichts ferner liegt, als die Absicht, ein bestimmtes Gedicht illustrie-
ren zu wollen, da vielmehr an solchen Stellen nur wirklich volks-
tümliche Sagen und zwar in volkstümlicher Fassung dargestellt zu

26) Paus. IX 2. 3 = Stesichoros fr. 68 Bergk.
27) Dies hat Serradifalco erkannt Antichità della Sicilia II T. XXXII p. 65.
Vgl. Benndorf Metopen v. Selinunt. Taf. IX S. 57. Auch auf einer roth-
figurigen attischen Vase begegnen wir derselben Stesichoreischen Sagenversion.
S. Micali Storia C 1.
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[26/0040] stellung, daſs die Götter menschlichen Leidenschaften unterworfen seien und Liebe und Haſs gegen die Sterblichen empfinden, nahm Stesichoros keinen Anstoſs und behielt daher unbedenklich die ältere Fassung der Sage bei, nach welcher Zeus, in Liebe zu Semele entbrannt und eifersüchtig auf Aktaion, der auch um Semele wirbt, der Artemis befiehlt, den unbequemen Neben- buhler aus dem Weg zu räumen. Aber den weiteren Bericht der Sage, daſs Artemis den Aktaion in einen Hirsch verwandelt, den seine eigenen Jagdhunde zerreiſsen, verwarf Stesichoros. Denn ganz unglaublich schien es ihm, daſs ein Mensch in ein Tier verwandelt werden könne. Daher erzählte er, Artemis hätte dem Aktaion nur das Fell eines Hirsches um die Schulter ge- worfen, und die Hunde, hierdurch getäuscht, hätten den Aktaion für einen Hirsch gehalten und zerrissen 26). Daſs nun diese Stesichoreischen Neubildungen der Sagen auch auf die Kunstdarstellungen eingewirkt haben, läſst sich ge- rade an dem eben besprochenen Beispiel zeigen. Eine Metope des jüngsten Tempels von Selinunt, dessen Erbauung sicher in die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts fällt, stellt Aktaion dar, der das Hirschfell um die Schultern, das Hirschhaupt über den Hinterkopf gezogen, sich vergebens der an ihm emporspringenden Hunde zu erwehren sucht 27). Hier haben wir die Aktaionsage in der Fassung des Stesichoros, denn bei der ganz eigentümlichen Natur derselben wird niemand be- zweifeln wollen, daſs das Gedicht des Stesichoros im ganz eigentlichen Sinne die Quelle für diese Darstellung ist; da aber dem Verfertiger einer dekorativen Tempelskulptur gewiſs nichts ferner liegt, als die Absicht, ein bestimmtes Gedicht illustrie- ren zu wollen, da vielmehr an solchen Stellen nur wirklich volks- tümliche Sagen und zwar in volkstümlicher Fassung dargestellt zu 26) Paus. IX 2. 3 = Stesichoros fr. 68 Bergk. 27) Dies hat Serradifalco erkannt Antichità della Sicilia II T. XXXII p. 65. Vgl. Benndorf Metopen v. Selinunt. Taf. IX S. 57. Auch auf einer roth- figurigen attischen Vase begegnen wir derselben Stesichoreischen Sagenversion. S. Micali Storia C 1.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/40>, abgerufen am 28.03.2024.