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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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Nennung des Autors parodieren und doch bei dem Publikum auf
Verständnis rechnen konnten, trat der überlieferten Volkssage
und dem ausgebildeten Volksepos mit der ganzen Macht und dem
ganzen Eigensinn einer schöpferischen Dichter-Individualität gegen-
über, mit keckem Griff neugestaltend, mit beispiellosem Erfolg.

Ouk est etumos logos outos;
oud ebas en nausin euselmois
oud ikeo pergama Troias.

So keck ist wohl selten ein Dichter der Volksvorstellung gegen-
über getreten, wie Stesichoros in dieser seiner berühmten Apo-
strophe an Helena, mittels welcher er seine Umgestaltung des
Helena-Mythos einleitet; denn nur ein Scheinbild, so dichtete er,
war es, das Paris geraubt hatte, nur ein Scheinbild, um das
Troer und Achäer zehn Jahre lang gekämpft haben. Die wirk-
liche Helena hatte Hermes auf das Geheiss des Zeus nach
Ägypten entführt, wo sie Menelaos auf seiner Irrfahrt wieder-
findet. Für die Zähigkeit, mit welcher die Volksvorstellung an
der Sagenform des Epos hängt, ist es bezeichnend, dass, um eine
solch unerhörte subjective Willkür zu erklären, alsbald die litterar-
historische Sagenbildung geschäftig war und die Legende erfand,
dass Helena durch ein früheres Gedicht des Stesichoros erzürnt
über den Sänger Blindheit verhängt habe und dass er, um
sich von dieser zu erlösen, jenes Gedicht zu Helenas Ehren-
rettung gemacht habe, eine Legende, die schon zu Platons
Zeit in Athen allgemein bekannt war; aber ebenso bezeichnend
ist es für den gewaltigen Einfluss des Stesichoros, dass seine
Fassung neben der der Ilias gekannt war, dass sie sogar von
Herodot adoptiert und von Euripides bei der Abfassung seiner
Helena befolgt wurde. Dass bei dieser Umgestaltung für Stesi-
choros neben dem Anschluss an gewisse tendenziöse Sagenformen
der Dorer 25) auch rationalistische Gesichtspunkte massgebend
waren, können wir wenigstens an einem Beispiel darthun, an
seiner Behandlung der Sage von Aktaion. Zwar an der Vor-

25) S. Cap. V Der Tod des Aigisthos.

Nennung des Autors parodieren und doch bei dem Publikum auf
Verständnis rechnen konnten, trat der überlieferten Volkssage
und dem ausgebildeten Volksepos mit der ganzen Macht und dem
ganzen Eigensinn einer schöpferischen Dichter-Individualität gegen-
über, mit keckem Griff neugestaltend, mit beispiellosem Erfolg.

Οὐκ ἔστ̕ ἔτυμος λόγος οὗτος·
οὐδ̕ ἔβας ἐν ναυσὶν εὐσέλμοις
οὐδ̕ ἵκεο πέργαμα Τροίας.

So keck ist wohl selten ein Dichter der Volksvorstellung gegen-
über getreten, wie Stesichoros in dieser seiner berühmten Apo-
strophe an Helena, mittels welcher er seine Umgestaltung des
Helena-Mythos einleitet; denn nur ein Scheinbild, so dichtete er,
war es, das Paris geraubt hatte, nur ein Scheinbild, um das
Troer und Achäer zehn Jahre lang gekämpft haben. Die wirk-
liche Helena hatte Hermes auf das Geheiſs des Zeus nach
Ägypten entführt, wo sie Menelaos auf seiner Irrfahrt wieder-
findet. Für die Zähigkeit, mit welcher die Volksvorstellung an
der Sagenform des Epos hängt, ist es bezeichnend, daſs, um eine
solch unerhörte subjective Willkür zu erklären, alsbald die litterar-
historische Sagenbildung geschäftig war und die Legende erfand,
daſs Helena durch ein früheres Gedicht des Stesichoros erzürnt
über den Sänger Blindheit verhängt habe und daſs er, um
sich von dieser zu erlösen, jenes Gedicht zu Helenas Ehren-
rettung gemacht habe, eine Legende, die schon zu Platons
Zeit in Athen allgemein bekannt war; aber ebenso bezeichnend
ist es für den gewaltigen Einfluſs des Stesichoros, daſs seine
Fassung neben der der Ilias gekannt war, daſs sie sogar von
Herodot adoptiert und von Euripides bei der Abfassung seiner
Helena befolgt wurde. Daſs bei dieser Umgestaltung für Stesi-
choros neben dem Anschluſs an gewisse tendenziöse Sagenformen
der Dorer 25) auch rationalistische Gesichtspunkte maſsgebend
waren, können wir wenigstens an einem Beispiel darthun, an
seiner Behandlung der Sage von Aktaion. Zwar an der Vor-

25) S. Cap. V Der Tod des Aigisthos.
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[25/0039] Nennung des Autors parodieren und doch bei dem Publikum auf Verständnis rechnen konnten, trat der überlieferten Volkssage und dem ausgebildeten Volksepos mit der ganzen Macht und dem ganzen Eigensinn einer schöpferischen Dichter-Individualität gegen- über, mit keckem Griff neugestaltend, mit beispiellosem Erfolg. Οὐκ ἔστ̕ ἔτυμος λόγος οὗτος· οὐδ̕ ἔβας ἐν ναυσὶν εὐσέλμοις οὐδ̕ ἵκεο πέργαμα Τροίας. So keck ist wohl selten ein Dichter der Volksvorstellung gegen- über getreten, wie Stesichoros in dieser seiner berühmten Apo- strophe an Helena, mittels welcher er seine Umgestaltung des Helena-Mythos einleitet; denn nur ein Scheinbild, so dichtete er, war es, das Paris geraubt hatte, nur ein Scheinbild, um das Troer und Achäer zehn Jahre lang gekämpft haben. Die wirk- liche Helena hatte Hermes auf das Geheiſs des Zeus nach Ägypten entführt, wo sie Menelaos auf seiner Irrfahrt wieder- findet. Für die Zähigkeit, mit welcher die Volksvorstellung an der Sagenform des Epos hängt, ist es bezeichnend, daſs, um eine solch unerhörte subjective Willkür zu erklären, alsbald die litterar- historische Sagenbildung geschäftig war und die Legende erfand, daſs Helena durch ein früheres Gedicht des Stesichoros erzürnt über den Sänger Blindheit verhängt habe und daſs er, um sich von dieser zu erlösen, jenes Gedicht zu Helenas Ehren- rettung gemacht habe, eine Legende, die schon zu Platons Zeit in Athen allgemein bekannt war; aber ebenso bezeichnend ist es für den gewaltigen Einfluſs des Stesichoros, daſs seine Fassung neben der der Ilias gekannt war, daſs sie sogar von Herodot adoptiert und von Euripides bei der Abfassung seiner Helena befolgt wurde. Daſs bei dieser Umgestaltung für Stesi- choros neben dem Anschluſs an gewisse tendenziöse Sagenformen der Dorer 25) auch rationalistische Gesichtspunkte maſsgebend waren, können wir wenigstens an einem Beispiel darthun, an seiner Behandlung der Sage von Aktaion. Zwar an der Vor- 25) S. Cap. V Der Tod des Aigisthos.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/39>, abgerufen am 23.04.2024.