durch die Angabe, dass der Ort der Katastrophe das Heiligtum des thymbräischen Apollo war; dass dieselbe bei Gelegenheit eines Opfers eintrat, wird nicht gesagt, ist aber in hohem Grade wahr- scheinlich. Es ist unabweislich, damit in Verbindung zu bringen, dass sowohl bei Hygin als bei Servius Laokoon Priester des Apollo ist, und dass bei ersterem auch der eine Sohn nach dem Gotte Thymbraeus heisst. Und wenn nun weiter Hygin erzählt, dass der Gott den Ungehorsam des Vaters durch den Tod der beiden Söhne, der Spröss- linge aus dem verbotenen Ehebündnis, straft, so liegt es nahe genug, dasselbe oder ein ähnliches Motiv für Sophokles vorauszusetzen, bei dem ja gerade wie bei Hygin beide Söhne, aber auch nur diese ohne den Vater umkommen; und dies um so mehr, da im Drama, wie namentlich Welcker mit Recht gefordert hat, die Katastrophe durch eine Schuld des Laokoon motiviert sein muss. Und so befinden wir uns von neuem der Frage gegenüber, ob nicht doch in jener Hyginschen Fabel, natürlich in der reinen und un- verfälschten Gestalt, wie ich sie oben abgedruckt habe, wenigstens der Anfang einer Hypothesis von Sophokles Laokoon erhalten sei. Diese Frage zu verneinen, veranlasst mich eine doppelte Er- wägung. Erstens passt zu der Katastrophe im thymbräischen Heiligtum noch weit besser, als die von Hygin überlieferte, die- jenige Version von Laokoons Schuld, die in den Vergilscholien (Aen. II 201) erzählt wird: hic (Laocoon) piaculum com- miserat ante simulacrum numinis (Thymbraei Apollinis) cum Antiopa sua uxore coeundo; denn bekanntlich ist es ein sehr beliebtes tragisches Motiv, dass die Strafe an demselben Orte erfolgt, an dem die Schuld begangen ist, hier also im thymbräischen Heiligtum. Nimmt man aber diesen Zug, wie man konsequenter Weise muss, für Sophokles in Anspruch, so kann man andererseits Hygins Erzählung nicht mehr auf Sophokles zurückführen. Denn anzunehmen, dass mit Rücksicht auf den Zweck der fabulae als Schulbuch das anstössige Motiv entfernt worden sei, geht aus dem Grunde schwerlich an, weil in anderen fabulae Dinge enthalten sind, die sich nach unseren Begriffen noch viel weniger zur Schullektüre eignen. Zweitens aber kann die Fabel auch deshalb nicht auf Sophokles zurückgehen, weil
durch die Angabe, daſs der Ort der Katastrophe das Heiligtum des thymbräischen Apollo war; daſs dieselbe bei Gelegenheit eines Opfers eintrat, wird nicht gesagt, ist aber in hohem Grade wahr- scheinlich. Es ist unabweislich, damit in Verbindung zu bringen, daſs sowohl bei Hygin als bei Servius Laokoon Priester des Apollo ist, und daſs bei ersterem auch der eine Sohn nach dem Gotte Thymbraeus heiſst. Und wenn nun weiter Hygin erzählt, daſs der Gott den Ungehorsam des Vaters durch den Tod der beiden Söhne, der Spröſs- linge aus dem verbotenen Ehebündnis, straft, so liegt es nahe genug, dasselbe oder ein ähnliches Motiv für Sophokles vorauszusetzen, bei dem ja gerade wie bei Hygin beide Söhne, aber auch nur diese ohne den Vater umkommen; und dies um so mehr, da im Drama, wie namentlich Welcker mit Recht gefordert hat, die Katastrophe durch eine Schuld des Laokoon motiviert sein muſs. Und so befinden wir uns von neuem der Frage gegenüber, ob nicht doch in jener Hyginschen Fabel, natürlich in der reinen und un- verfälschten Gestalt, wie ich sie oben abgedruckt habe, wenigstens der Anfang einer Hypothesis von Sophokles Laokoon erhalten sei. Diese Frage zu verneinen, veranlaſst mich eine doppelte Er- wägung. Erstens paſst zu der Katastrophe im thymbräischen Heiligtum noch weit besser, als die von Hygin überlieferte, die- jenige Version von Laokoons Schuld, die in den Vergilscholien (Aen. II 201) erzählt wird: hic (Laocoon) piaculum com- miserat ante simulacrum numinis (Thymbraei Apollinis) cum Antiopa sua uxore coeundo; denn bekanntlich ist es ein sehr beliebtes tragisches Motiv, daſs die Strafe an demselben Orte erfolgt, an dem die Schuld begangen ist, hier also im thymbräischen Heiligtum. Nimmt man aber diesen Zug, wie man konsequenter Weise muſs, für Sophokles in Anspruch, so kann man andererseits Hygins Erzählung nicht mehr auf Sophokles zurückführen. Denn anzunehmen, daſs mit Rücksicht auf den Zweck der fabulae als Schulbuch das anstöſsige Motiv entfernt worden sei, geht aus dem Grunde schwerlich an, weil in anderen fabulae Dinge enthalten sind, die sich nach unseren Begriffen noch viel weniger zur Schullektüre eignen. Zweitens aber kann die Fabel auch deshalb nicht auf Sophokles zurückgehen, weil
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durch die Angabe, daſs der Ort der Katastrophe das Heiligtum
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Opfers eintrat, wird nicht gesagt, ist aber in hohem Grade wahr-
scheinlich. Es ist unabweislich, damit in Verbindung zu bringen, daſs
sowohl bei Hygin als bei Servius Laokoon Priester des Apollo ist, und
daſs bei ersterem auch der eine Sohn nach dem Gotte Thymbraeus
heiſst. Und wenn nun weiter Hygin erzählt, daſs der Gott den
Ungehorsam des Vaters durch den Tod der beiden Söhne, der Spröſs-
linge aus dem verbotenen Ehebündnis, straft, so liegt es nahe genug,
dasselbe oder ein ähnliches Motiv für Sophokles vorauszusetzen, bei
dem ja gerade wie bei Hygin beide Söhne, aber auch nur diese
ohne den Vater umkommen; und dies um so mehr, da im Drama,
wie namentlich Welcker mit Recht gefordert hat, die Katastrophe
durch eine Schuld des Laokoon motiviert sein muſs. Und so
befinden wir uns von neuem der Frage gegenüber, ob nicht doch
in jener Hyginschen Fabel, natürlich in der reinen und un-
verfälschten Gestalt, wie ich sie oben abgedruckt habe, wenigstens
der Anfang einer Hypothesis von Sophokles Laokoon erhalten sei.
Diese Frage zu verneinen, veranlaſst mich eine doppelte Er-
wägung. Erstens paſst zu der Katastrophe im thymbräischen
Heiligtum noch weit besser, als die von Hygin überlieferte, die-
jenige Version von Laokoons Schuld, die in den Vergilscholien
(Aen. II 201) erzählt wird: hic (Laocoon) piaculum com-
miserat ante simulacrum numinis (Thymbraei Apollinis)
cum Antiopa sua uxore coeundo; denn bekanntlich ist es ein
sehr beliebtes tragisches Motiv, daſs die Strafe an demselben
Orte erfolgt, an dem die Schuld begangen ist, hier also im
thymbräischen Heiligtum. Nimmt man aber diesen Zug, wie man
konsequenter Weise muſs, für Sophokles in Anspruch, so kann
man andererseits Hygins Erzählung nicht mehr auf Sophokles
zurückführen. Denn anzunehmen, daſs mit Rücksicht auf den
Zweck der fabulae als Schulbuch das anstöſsige Motiv entfernt
worden sei, geht aus dem Grunde schwerlich an, weil in anderen
fabulae Dinge enthalten sind, die sich nach unseren Begriffen
noch viel weniger zur Schullektüre eignen. Zweitens aber kann
die Fabel auch deshalb nicht auf Sophokles zurückgehen, weil
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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/214>, abgerufen am 03.05.2024.
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