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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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Wenden wir von diesen unsicheren Versuchen, für die Rekon-
struktion der letzten Hälfte des stesichoreischen Gedichtes Anhalts-
punkte zu gewinnen, den Blick auf das Ganze, wie wir es als die
eigentlich massgebende poetische Behandlung des Stoffes vor dem
attischen Drama und voll des weitgreifendsten Einflusses auf
dieses selbst und die Kunstdarstellungen nachzuweisen gesucht
haben, so wird man den Eindruck gewinnen, dass wir es mit
einer epochemachenden dichterischen Erscheinung zu thun haben,
der sich an Einfluss auf die Sagenvorstellung des ganzen helle-
nischen Volkes nur wenige an die Seite stellen können. So hoch
ich nun die freie dichterische Schöpfung gerade des Stesichoros
anschlagen zu müssen glaube, und so kühn und rücksichtlos
derselbe auch nachweislich sonst mit der volkstümlichen und
poetischen Tradition gebrochen hat, so wird es mir doch in diesem
Falle schwer, mir die ungeheure Umgestaltung des Stoffes, wie sie
die stesichoreische Oresteia den homerischen Gedichten gegenüber
darstellt, als das Werk eines einzigen Mannes vorzustellen, wenn
nicht wenigstens hier und da in dem Volksbewusstsein und in der
späteren epischen Poesie sich eine solche Umwandlung vorbereitet

gruppe nach demselben Typus, wie auf den rotfigurigen attischen Vasen, ein
Umstand, auf welchen schon oben (Anm. 16) hingewiesen wurde; allein an Stelle
der Klytaimnestra erscheint ein Mädchen mit Haube, das statt des Beiles einen
Fussschemel gegen Orestes schwingt. Sie für Klytaimnestra zu halten, ver-
bietet teils ihre zu grosse Jugendlichkeit, teils der Umstand, dass diese in
der zweiten Scene in ganz anderer Gewandung erscheint. Dies sah Benndorf,
begnügte sich jedoch, die Figur allgemein als una partigiana di Egisto zu
bezeichnen. Nach dem im Text Bemerkten wird man gewiss der Benennung
Erigone eine grössere Probabilität nicht absprechen können. Ebenso kommt
in der Scene rechts der niedergesunkenen Klytaimnestra ein nackter Jüng-
ling, der in den erhobenen Händen ein Gefäss schwingt, zu Hilfe; un servo
nach Benndorf. Allein für einen solchen erscheint die Figur doch zu sehr
hervorgehoben; auch pflegen Sklaven, wie der auf den übrigen Orestes-
sarkophagen, mit der Exomis dargestellt zu werden; Nacktheit hingegen
deutet immer den vornehmen heroischen Jüngling an. Man wird deshalb die
Deutung auf Oiax vorziehen. -- Ein seltsames Zusammentreffen ist es aller-
dings, dass auf den etruskischen Urnen in derselben Stellung, wie hier
Erigone und gleichfalls mit einem Schemel bewaffnet, Klytaimnestra bei der
Ermordung des Agamemnon erscheint (Brunn, Urne etrusche LXXIV).

Wenden wir von diesen unsicheren Versuchen, für die Rekon-
struktion der letzten Hälfte des stesichoreischen Gedichtes Anhalts-
punkte zu gewinnen, den Blick auf das Ganze, wie wir es als die
eigentlich maſsgebende poetische Behandlung des Stoffes vor dem
attischen Drama und voll des weitgreifendsten Einflusses auf
dieses selbst und die Kunstdarstellungen nachzuweisen gesucht
haben, so wird man den Eindruck gewinnen, daſs wir es mit
einer epochemachenden dichterischen Erscheinung zu thun haben,
der sich an Einfluſs auf die Sagenvorstellung des ganzen helle-
nischen Volkes nur wenige an die Seite stellen können. So hoch
ich nun die freie dichterische Schöpfung gerade des Stesichoros
anschlagen zu müssen glaube, und so kühn und rücksichtlos
derselbe auch nachweislich sonst mit der volkstümlichen und
poetischen Tradition gebrochen hat, so wird es mir doch in diesem
Falle schwer, mir die ungeheure Umgestaltung des Stoffes, wie sie
die stesichoreische Oresteia den homerischen Gedichten gegenüber
darstellt, als das Werk eines einzigen Mannes vorzustellen, wenn
nicht wenigstens hier und da in dem Volksbewuſstsein und in der
späteren epischen Poesie sich eine solche Umwandlung vorbereitet

gruppe nach demselben Typus, wie auf den rotfigurigen attischen Vasen, ein
Umstand, auf welchen schon oben (Anm. 16) hingewiesen wurde; allein an Stelle
der Klytaimnestra erscheint ein Mädchen mit Haube, das statt des Beiles einen
Fuſsschemel gegen Orestes schwingt. Sie für Klytaimnestra zu halten, ver-
bietet teils ihre zu groſse Jugendlichkeit, teils der Umstand, daſs diese in
der zweiten Scene in ganz anderer Gewandung erscheint. Dies sah Benndorf,
begnügte sich jedoch, die Figur allgemein als una partigiana di Egisto zu
bezeichnen. Nach dem im Text Bemerkten wird man gewiſs der Benennung
Erigone eine gröſsere Probabilität nicht absprechen können. Ebenso kommt
in der Scene rechts der niedergesunkenen Klytaimnestra ein nackter Jüng-
ling, der in den erhobenen Händen ein Gefäſs schwingt, zu Hilfe; un servo
nach Benndorf. Allein für einen solchen erscheint die Figur doch zu sehr
hervorgehoben; auch pflegen Sklaven, wie der auf den übrigen Orestes-
sarkophagen, mit der Exomis dargestellt zu werden; Nacktheit hingegen
deutet immer den vornehmen heroischen Jüngling an. Man wird deshalb die
Deutung auf Oiax vorziehen. — Ein seltsames Zusammentreffen ist es aller-
dings, daſs auf den etruskischen Urnen in derselben Stellung, wie hier
Erigone und gleichfalls mit einem Schemel bewaffnet, Klytaimnestra bei der
Ermordung des Agamemnon erscheint (Brunn, Urne etrusche LXXIV).
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[186/0200] Wenden wir von diesen unsicheren Versuchen, für die Rekon- struktion der letzten Hälfte des stesichoreischen Gedichtes Anhalts- punkte zu gewinnen, den Blick auf das Ganze, wie wir es als die eigentlich maſsgebende poetische Behandlung des Stoffes vor dem attischen Drama und voll des weitgreifendsten Einflusses auf dieses selbst und die Kunstdarstellungen nachzuweisen gesucht haben, so wird man den Eindruck gewinnen, daſs wir es mit einer epochemachenden dichterischen Erscheinung zu thun haben, der sich an Einfluſs auf die Sagenvorstellung des ganzen helle- nischen Volkes nur wenige an die Seite stellen können. So hoch ich nun die freie dichterische Schöpfung gerade des Stesichoros anschlagen zu müssen glaube, und so kühn und rücksichtlos derselbe auch nachweislich sonst mit der volkstümlichen und poetischen Tradition gebrochen hat, so wird es mir doch in diesem Falle schwer, mir die ungeheure Umgestaltung des Stoffes, wie sie die stesichoreische Oresteia den homerischen Gedichten gegenüber darstellt, als das Werk eines einzigen Mannes vorzustellen, wenn nicht wenigstens hier und da in dem Volksbewuſstsein und in der späteren epischen Poesie sich eine solche Umwandlung vorbereitet 34) 34) gruppe nach demselben Typus, wie auf den rotfigurigen attischen Vasen, ein Umstand, auf welchen schon oben (Anm. 16) hingewiesen wurde; allein an Stelle der Klytaimnestra erscheint ein Mädchen mit Haube, das statt des Beiles einen Fuſsschemel gegen Orestes schwingt. Sie für Klytaimnestra zu halten, ver- bietet teils ihre zu groſse Jugendlichkeit, teils der Umstand, daſs diese in der zweiten Scene in ganz anderer Gewandung erscheint. Dies sah Benndorf, begnügte sich jedoch, die Figur allgemein als una partigiana di Egisto zu bezeichnen. Nach dem im Text Bemerkten wird man gewiſs der Benennung Erigone eine gröſsere Probabilität nicht absprechen können. Ebenso kommt in der Scene rechts der niedergesunkenen Klytaimnestra ein nackter Jüng- ling, der in den erhobenen Händen ein Gefäſs schwingt, zu Hilfe; un servo nach Benndorf. Allein für einen solchen erscheint die Figur doch zu sehr hervorgehoben; auch pflegen Sklaven, wie der auf den übrigen Orestes- sarkophagen, mit der Exomis dargestellt zu werden; Nacktheit hingegen deutet immer den vornehmen heroischen Jüngling an. Man wird deshalb die Deutung auf Oiax vorziehen. — Ein seltsames Zusammentreffen ist es aller- dings, daſs auf den etruskischen Urnen in derselben Stellung, wie hier Erigone und gleichfalls mit einem Schemel bewaffnet, Klytaimnestra bei der Ermordung des Agamemnon erscheint (Brunn, Urne etrusche LXXIV).

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/200>, abgerufen am 27.04.2024.