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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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aber so wunderbar, wenn ein Zug, den freilich einmal ein ionischer
Sänger mit seiner dichterischen Phantasie geschaffen hat, der
aber seitdem von Mund zu Mund und von Geschlecht zu Ge-
schlecht gewandert ist, auch zuletzt auf Darstellungen des ge-
wöhnlichen Lebens übertragen wird 39).

In dieser Überzeugung können mich auch Brunns weitere
Einwendungen nicht irre machen. Derselbe führt zunächst
gegen meine Deutung die Pamphaiosschale 40) an, auf deren
Rückseite Amazonen dargestellt sind -- denn dafür erklärt
Brunn die Figuren mit Recht, und ich spreche ihm für seine
Zurechtweisung in diesem Punkt um so lieber meinen Dank,

39) Brunn S. 191 will auch die unklaren Vorstellungen, die bei mir und
anderen über die Bedeutung des Thanatos herrschen, berichtigen, und dem-
selben den ihm abgesprochenen Charakter einer "mythologischen Persönlich-
keit" zurückgeben. Unter dieser Bezeichnung scheint Brunn eine im religiösen
Bewusstsein des Volkes lebende göttliche Persönlichkeit zu verstehen; ob
mit oder ohne Kult, ist nicht klar. Das Ursprüngliche im Wesen des
Thanatos liegt also nach Brunn -- etwa in dem, was der Name sagt, im
Todbringen, im Vernichten? -- weit gefehlt, gerade in seiner Beziehung
zur Bestattung, zur Grablegung. "Er hat nichts zu thun mit den Seelen der
Abgeschiedenen im Hades, sondern nur mit den Leichen, die er unter die
Erde zu bringen und dem Hades zu übergeben hat. Der unbehagliche
Zwischenzustand zwischen dem Moment des Sterbens und dem bleibenden
Eintritte in die Behausungen des Hades ist das eigenste Gebiet, welches dem
Wirken und der Thätigkeit des Thanatos anheimfällt, über welches sich sein
Wirken aber auch nirgends hinaus erstreckt." Ich bedaure nur, dass Brunn
es für überflüssig gehalten hat anzugeben, wie er sich denn das Verhältnis der
Thanatos zum Hermes psukhopompos denkt, denn bisher hatte man aus Litteratur
und Kunst die Anschauung geschöpft, dass nach dem religiösen Bewusstsein
der Griechen es die Sache dieses Gottes sei, die Toten zum Hades zu gelei-
ten; und was die Bestattung betrifft, so hatte man sich vorgestellt, dass diese
auch bei den Alten von den Hinterbliebenen, und nicht von Hypnos und
Thanatos, besorgt worden sei. Auch wäre eine Belehrung darüber nicht ganz
überflüssig gewesen, wie es denn kommt, dass bei Euripides Thanatos noch
über Alkestis verfügen kann, da diese doch nicht nur in aller Form unter
feierlichen Totenopfern bestattet, sondern schon in das Boot des Charon ge-
stiegen ist und, wie V. 850 lehrt, sich bereits im Reich des Hades befindet,
mit dem nach Brunns eigenen Worten Thanatos nichts zu schaffen hat.
40) Archaeologia XXIX pl. 16. Gerhard A. V. CCXXI--II. Overbeck Her.
Gall. XXII 14. S. 533, vgl. Robert, Thanatos S. 9.

aber so wunderbar, wenn ein Zug, den freilich einmal ein ionischer
Sänger mit seiner dichterischen Phantasie geschaffen hat, der
aber seitdem von Mund zu Mund und von Geschlecht zu Ge-
schlecht gewandert ist, auch zuletzt auf Darstellungen des ge-
wöhnlichen Lebens übertragen wird 39).

In dieser Überzeugung können mich auch Brunns weitere
Einwendungen nicht irre machen. Derselbe führt zunächst
gegen meine Deutung die Pamphaiosschale 40) an, auf deren
Rückseite Amazonen dargestellt sind — denn dafür erklärt
Brunn die Figuren mit Recht, und ich spreche ihm für seine
Zurechtweisung in diesem Punkt um so lieber meinen Dank,

39) Brunn S. 191 will auch die unklaren Vorstellungen, die bei mir und
anderen über die Bedeutung des Thanatos herrschen, berichtigen, und dem-
selben den ihm abgesprochenen Charakter einer „mythologischen Persönlich-
keit“ zurückgeben. Unter dieser Bezeichnung scheint Brunn eine im religiösen
Bewuſstsein des Volkes lebende göttliche Persönlichkeit zu verstehen; ob
mit oder ohne Kult, ist nicht klar. Das Ursprüngliche im Wesen des
Thanatos liegt also nach Brunn — etwa in dem, was der Name sagt, im
Todbringen, im Vernichten? — weit gefehlt, gerade in seiner Beziehung
zur Bestattung, zur Grablegung. „Er hat nichts zu thun mit den Seelen der
Abgeschiedenen im Hades, sondern nur mit den Leichen, die er unter die
Erde zu bringen und dem Hades zu übergeben hat. Der unbehagliche
Zwischenzustand zwischen dem Moment des Sterbens und dem bleibenden
Eintritte in die Behausungen des Hades ist das eigenste Gebiet, welches dem
Wirken und der Thätigkeit des Thanatos anheimfällt, über welches sich sein
Wirken aber auch nirgends hinaus erstreckt.“ Ich bedaure nur, daſs Brunn
es für überflüssig gehalten hat anzugeben, wie er sich denn das Verhältnis der
Thanatos zum Hermes ψυχοπομπός denkt, denn bisher hatte man aus Litteratur
und Kunst die Anschauung geschöpft, daſs nach dem religiösen Bewuſstsein
der Griechen es die Sache dieses Gottes sei, die Toten zum Hades zu gelei-
ten; und was die Bestattung betrifft, so hatte man sich vorgestellt, daſs diese
auch bei den Alten von den Hinterbliebenen, und nicht von Hypnos und
Thanatos, besorgt worden sei. Auch wäre eine Belehrung darüber nicht ganz
überflüssig gewesen, wie es denn kommt, daſs bei Euripides Thanatos noch
über Alkestis verfügen kann, da diese doch nicht nur in aller Form unter
feierlichen Totenopfern bestattet, sondern schon in das Boot des Charon ge-
stiegen ist und, wie V. 850 lehrt, sich bereits im Reich des Hades befindet,
mit dem nach Brunns eigenen Worten Thanatos nichts zu schaffen hat.
40) Archaeologia XXIX pl. 16. Gerhard A. V. CCXXI—II. Overbeck Her.
Gall. XXII 14. S. 533, vgl. Robert, Thanatos S. 9.
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[110/0124] aber so wunderbar, wenn ein Zug, den freilich einmal ein ionischer Sänger mit seiner dichterischen Phantasie geschaffen hat, der aber seitdem von Mund zu Mund und von Geschlecht zu Ge- schlecht gewandert ist, auch zuletzt auf Darstellungen des ge- wöhnlichen Lebens übertragen wird 39). In dieser Überzeugung können mich auch Brunns weitere Einwendungen nicht irre machen. Derselbe führt zunächst gegen meine Deutung die Pamphaiosschale 40) an, auf deren Rückseite Amazonen dargestellt sind — denn dafür erklärt Brunn die Figuren mit Recht, und ich spreche ihm für seine Zurechtweisung in diesem Punkt um so lieber meinen Dank, 39) Brunn S. 191 will auch die unklaren Vorstellungen, die bei mir und anderen über die Bedeutung des Thanatos herrschen, berichtigen, und dem- selben den ihm abgesprochenen Charakter einer „mythologischen Persönlich- keit“ zurückgeben. Unter dieser Bezeichnung scheint Brunn eine im religiösen Bewuſstsein des Volkes lebende göttliche Persönlichkeit zu verstehen; ob mit oder ohne Kult, ist nicht klar. Das Ursprüngliche im Wesen des Thanatos liegt also nach Brunn — etwa in dem, was der Name sagt, im Todbringen, im Vernichten? — weit gefehlt, gerade in seiner Beziehung zur Bestattung, zur Grablegung. „Er hat nichts zu thun mit den Seelen der Abgeschiedenen im Hades, sondern nur mit den Leichen, die er unter die Erde zu bringen und dem Hades zu übergeben hat. Der unbehagliche Zwischenzustand zwischen dem Moment des Sterbens und dem bleibenden Eintritte in die Behausungen des Hades ist das eigenste Gebiet, welches dem Wirken und der Thätigkeit des Thanatos anheimfällt, über welches sich sein Wirken aber auch nirgends hinaus erstreckt.“ Ich bedaure nur, daſs Brunn es für überflüssig gehalten hat anzugeben, wie er sich denn das Verhältnis der Thanatos zum Hermes ψυχοπομπός denkt, denn bisher hatte man aus Litteratur und Kunst die Anschauung geschöpft, daſs nach dem religiösen Bewuſstsein der Griechen es die Sache dieses Gottes sei, die Toten zum Hades zu gelei- ten; und was die Bestattung betrifft, so hatte man sich vorgestellt, daſs diese auch bei den Alten von den Hinterbliebenen, und nicht von Hypnos und Thanatos, besorgt worden sei. Auch wäre eine Belehrung darüber nicht ganz überflüssig gewesen, wie es denn kommt, daſs bei Euripides Thanatos noch über Alkestis verfügen kann, da diese doch nicht nur in aller Form unter feierlichen Totenopfern bestattet, sondern schon in das Boot des Charon ge- stiegen ist und, wie V. 850 lehrt, sich bereits im Reich des Hades befindet, mit dem nach Brunns eigenen Worten Thanatos nichts zu schaffen hat. 40) Archaeologia XXIX pl. 16. Gerhard A. V. CCXXI—II. Overbeck Her. Gall. XXII 14. S. 533, vgl. Robert, Thanatos S. 9.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/124>, abgerufen am 02.05.2024.