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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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wollen, obgleich dieselbe vor der Brunnschen wenigstens den
Vorzug hat, dass sie nicht im Widerspruch mit der Ilias und
mit der Sagenanschauung des gesamten Altertumes steht. Ich
will nur zeigen, dass Betrachtungen, wie die von Brunn ange-
stellten, sich leicht in jede beliebige Form giessen lassen; gewiss
der beste Beweis, dass sie durchaus nur subjektive Geltung be-
anspruchen können. Für mich ist massgebend, dass nur einmal
in der Poesie Thanatos und Hypnos als Träger eines Toten auf-
treten, und zwar des Sarpedon, dass bei dieser Gelegenheit ihr
Auftreten als etwas ganz besonderes, als eine nur dem Sohne
des höchsten Gottes zu teil gewordene Ehre, von dem Dichter
besonders hervorgehoben wird. Wenn dem gegenüber Brunn
daran festhalten will, dass diese Einführung auf Volksvorstellung
beruhen müsse, so verstehe ich nicht, wie der Dichter etwas
Gewöhnliches und jedem Toten zu teil Werdendes als eine be-
sondere Auszeichnung hervorheben kann 38). Mir scheint, dass doch
der poetischen Bearbeitung der Sage ein gut Stück eigener Er-
findung zugeschrieben werden muss, welches von dem eigentlichen
mythischen Gehalt wohl zu trennen ist; und dass andererseits die
Ilias den allerdominierendsten Einfluss auf die Vorstellung des
Volkes geübt hat, wird doch allgemein zugegeben. Ist es dann

38) Auch Kekule (Deutsche Litteratur-Zeitung 1880 S. 382) bezweifelt
"dass eine solche vereinzelte dichterische 'Erfindung' eine derartige Be-
deutung für die bildliche Darstellung erhalten haben könne, ohne dass sie
eben nur die Verwendung oder sehr leichte Umdeutung eines bereits vor-
handenen mythologischen Substrats gewesen sei". Aber was ist denn der
von der gesamten antiken Kunst und zwar schon der archaischen weitaus am
häufigsten dargestellte Mythos, das Parisurteil, anders, als eben solche ver-
einzelte dichterische Erfindung und noch dazu recht jungen Datums, sicher-
lich jünger, als das Sarpedonlied? Auch kann ich mir kaum vorstellen,
welcher Art das vom Dichter umgedeutete mythologische Substrat gewesen
sein soll. Soll es wirklich Volksvorstellung gewesen sein, dass Schlaf und
Tod, zwei Personifikationen abstrakter Begriffe, die Toten in ihre Heimat
tragen? Wie kommt es denn, dass dieser Zug sonst nicht wiederkehrt, dass
Hera erst den Zeus daran mahnen muss? Oder tragen sie nach dem Volks-
glauben ihn etwa zu den Inseln der Seligen? Aber was in aller Welt be-
rechtigt uns, diese Vorstellung, von der sich in Ilias und Odyssee keine Spur
findet, für so alt zu halten?

wollen, obgleich dieselbe vor der Brunnschen wenigstens den
Vorzug hat, daſs sie nicht im Widerspruch mit der Ilias und
mit der Sagenanschauung des gesamten Altertumes steht. Ich
will nur zeigen, daſs Betrachtungen, wie die von Brunn ange-
stellten, sich leicht in jede beliebige Form gieſsen lassen; gewiſs
der beste Beweis, daſs sie durchaus nur subjektive Geltung be-
anspruchen können. Für mich ist maſsgebend, daſs nur einmal
in der Poesie Thanatos und Hypnos als Träger eines Toten auf-
treten, und zwar des Sarpedon, daſs bei dieser Gelegenheit ihr
Auftreten als etwas ganz besonderes, als eine nur dem Sohne
des höchsten Gottes zu teil gewordene Ehre, von dem Dichter
besonders hervorgehoben wird. Wenn dem gegenüber Brunn
daran festhalten will, daſs diese Einführung auf Volksvorstellung
beruhen müsse, so verstehe ich nicht, wie der Dichter etwas
Gewöhnliches und jedem Toten zu teil Werdendes als eine be-
sondere Auszeichnung hervorheben kann 38). Mir scheint, daſs doch
der poetischen Bearbeitung der Sage ein gut Stück eigener Er-
findung zugeschrieben werden muſs, welches von dem eigentlichen
mythischen Gehalt wohl zu trennen ist; und daſs andererseits die
Ilias den allerdominierendsten Einfluſs auf die Vorstellung des
Volkes geübt hat, wird doch allgemein zugegeben. Ist es dann

38) Auch Kekulé (Deutsche Litteratur-Zeitung 1880 S. 382) bezweifelt
„daſs eine solche vereinzelte dichterische ‘Erfindung’ eine derartige Be-
deutung für die bildliche Darstellung erhalten haben könne, ohne daſs sie
eben nur die Verwendung oder sehr leichte Umdeutung eines bereits vor-
handenen mythologischen Substrats gewesen sei“. Aber was ist denn der
von der gesamten antiken Kunst und zwar schon der archaischen weitaus am
häufigsten dargestellte Mythos, das Parisurteil, anders, als eben solche ver-
einzelte dichterische Erfindung und noch dazu recht jungen Datums, sicher-
lich jünger, als das Sarpedonlied? Auch kann ich mir kaum vorstellen,
welcher Art das vom Dichter umgedeutete mythologische Substrat gewesen
sein soll. Soll es wirklich Volksvorstellung gewesen sein, daſs Schlaf und
Tod, zwei Personifikationen abstrakter Begriffe, die Toten in ihre Heimat
tragen? Wie kommt es denn, daſs dieser Zug sonst nicht wiederkehrt, daſs
Hera erst den Zeus daran mahnen muſs? Oder tragen sie nach dem Volks-
glauben ihn etwa zu den Inseln der Seligen? Aber was in aller Welt be-
rechtigt uns, diese Vorstellung, von der sich in Ilias und Odyssee keine Spur
findet, für so alt zu halten?
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[109/0123] wollen, obgleich dieselbe vor der Brunnschen wenigstens den Vorzug hat, daſs sie nicht im Widerspruch mit der Ilias und mit der Sagenanschauung des gesamten Altertumes steht. Ich will nur zeigen, daſs Betrachtungen, wie die von Brunn ange- stellten, sich leicht in jede beliebige Form gieſsen lassen; gewiſs der beste Beweis, daſs sie durchaus nur subjektive Geltung be- anspruchen können. Für mich ist maſsgebend, daſs nur einmal in der Poesie Thanatos und Hypnos als Träger eines Toten auf- treten, und zwar des Sarpedon, daſs bei dieser Gelegenheit ihr Auftreten als etwas ganz besonderes, als eine nur dem Sohne des höchsten Gottes zu teil gewordene Ehre, von dem Dichter besonders hervorgehoben wird. Wenn dem gegenüber Brunn daran festhalten will, daſs diese Einführung auf Volksvorstellung beruhen müsse, so verstehe ich nicht, wie der Dichter etwas Gewöhnliches und jedem Toten zu teil Werdendes als eine be- sondere Auszeichnung hervorheben kann 38). Mir scheint, daſs doch der poetischen Bearbeitung der Sage ein gut Stück eigener Er- findung zugeschrieben werden muſs, welches von dem eigentlichen mythischen Gehalt wohl zu trennen ist; und daſs andererseits die Ilias den allerdominierendsten Einfluſs auf die Vorstellung des Volkes geübt hat, wird doch allgemein zugegeben. Ist es dann 38) Auch Kekulé (Deutsche Litteratur-Zeitung 1880 S. 382) bezweifelt „daſs eine solche vereinzelte dichterische ‘Erfindung’ eine derartige Be- deutung für die bildliche Darstellung erhalten haben könne, ohne daſs sie eben nur die Verwendung oder sehr leichte Umdeutung eines bereits vor- handenen mythologischen Substrats gewesen sei“. Aber was ist denn der von der gesamten antiken Kunst und zwar schon der archaischen weitaus am häufigsten dargestellte Mythos, das Parisurteil, anders, als eben solche ver- einzelte dichterische Erfindung und noch dazu recht jungen Datums, sicher- lich jünger, als das Sarpedonlied? Auch kann ich mir kaum vorstellen, welcher Art das vom Dichter umgedeutete mythologische Substrat gewesen sein soll. Soll es wirklich Volksvorstellung gewesen sein, daſs Schlaf und Tod, zwei Personifikationen abstrakter Begriffe, die Toten in ihre Heimat tragen? Wie kommt es denn, daſs dieser Zug sonst nicht wiederkehrt, daſs Hera erst den Zeus daran mahnen muſs? Oder tragen sie nach dem Volks- glauben ihn etwa zu den Inseln der Seligen? Aber was in aller Welt be- rechtigt uns, diese Vorstellung, von der sich in Ilias und Odyssee keine Spur findet, für so alt zu halten?

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/123>, abgerufen am 24.11.2024.