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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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mit Blumen in den Händen, die neugierigen Kekropstöchter
Herse und Aglauros. Ihnen entgegen eilt mit besorgten Ge-
bärden die Hände ausstreckend ein drittes Mädchen Pandrosos;
in dem Gemach, aus dem sie herauskommt, sitzen neben einan-
der ein bärtiger Mann und ein noch etwas knabenhaft aussehen-
der Jüngling. Dieser streckt, wie Pandrosos, den heranfliehenden
Mädchen beide Arme entgegen, jener erhebt erstaunt und er-
schrocken die Hand. Der Mann ist der Vater Kekrops, der
Jüngling sein Sohn Erysichthon, den sich also Brygos und viel-
leicht auch die Volkssage bei diesem Ereignis noch lebend
denkt. Ich glaube, dass damit den Anforderungen, die man an
die Probabilität einer Deutung stellen kann, hinreichend genügt
ist, auch wenn wir über das eine oder das andere Detail keine
Aufklärung geben könnten. Schwierigkeiten machen nämlich die
stilisierten Blüten, welche die beiden Mädchen in den Händen
tragen, und die Ranken und Palmetten, welche von dem Hals
und Leib der Erichthoniosschlange auszugehen scheinen. Dieser
Umstand veranlasste O. Jahn zu der Annahme, dass die Mädchen
beim Blumenpflücken von der Schlange überrascht worden wären
und dass wir es mit einer im Übrigen spurlos untergegangenen
Version des Kychreus-Mythos zu thun hätten. Indessen scheint
es mir die weitaus naheliegendste und einfachste Annahme, dass
die Erichthoniosschlange von Zweigen und Blumen überdeckt in
der Kiste lag und dass die Mädchen neugierig die Zweige auf-
hoben und nun noch in den Händen halten. In der Litteratur
kann ich diesen Zug freilich augenblicklich nicht nachweisen;
aber sollten in einer so einfachen Sache wirklich litterarische
Nachweise für nötig erachtet werden?

Der dritte der oben aufgezählten Fälle, freie Erfindung
eines Pendants zu einem alten Typus, ist weitaus der seltenste:
er stellt an das Erfindungsvermögen des Künstlers die grössten
Anforderungen. Ein sicheres Beispiel dafür glaube ich in einer
Schale desselben Malers Brygos anführen zu können22). Die

22) Mon. e. Ann. d. Inst. 1856 T. XIV. Wiener Vorlegebl. Ser. VIII
Taf. 3. Vgl. Heydemann a. a. O. S. 10. Urlichs a. a. O. S. 4.

mit Blumen in den Händen, die neugierigen Kekropstöchter
Herse und Aglauros. Ihnen entgegen eilt mit besorgten Ge-
bärden die Hände ausstreckend ein drittes Mädchen Pandrosos;
in dem Gemach, aus dem sie herauskommt, sitzen neben einan-
der ein bärtiger Mann und ein noch etwas knabenhaft aussehen-
der Jüngling. Dieser streckt, wie Pandrosos, den heranfliehenden
Mädchen beide Arme entgegen, jener erhebt erstaunt und er-
schrocken die Hand. Der Mann ist der Vater Kekrops, der
Jüngling sein Sohn Erysichthon, den sich also Brygos und viel-
leicht auch die Volkssage bei diesem Ereignis noch lebend
denkt. Ich glaube, daſs damit den Anforderungen, die man an
die Probabilität einer Deutung stellen kann, hinreichend genügt
ist, auch wenn wir über das eine oder das andere Detail keine
Aufklärung geben könnten. Schwierigkeiten machen nämlich die
stilisierten Blüten, welche die beiden Mädchen in den Händen
tragen, und die Ranken und Palmetten, welche von dem Hals
und Leib der Erichthoniosschlange auszugehen scheinen. Dieser
Umstand veranlaſste O. Jahn zu der Annahme, daſs die Mädchen
beim Blumenpflücken von der Schlange überrascht worden wären
und daſs wir es mit einer im Übrigen spurlos untergegangenen
Version des Kychreus-Mythos zu thun hätten. Indessen scheint
es mir die weitaus naheliegendste und einfachste Annahme, daſs
die Erichthoniosschlange von Zweigen und Blumen überdeckt in
der Kiste lag und daſs die Mädchen neugierig die Zweige auf-
hoben und nun noch in den Händen halten. In der Litteratur
kann ich diesen Zug freilich augenblicklich nicht nachweisen;
aber sollten in einer so einfachen Sache wirklich litterarische
Nachweise für nötig erachtet werden?

Der dritte der oben aufgezählten Fälle, freie Erfindung
eines Pendants zu einem alten Typus, ist weitaus der seltenste:
er stellt an das Erfindungsvermögen des Künstlers die gröſsten
Anforderungen. Ein sicheres Beispiel dafür glaube ich in einer
Schale desselben Malers Brygos anführen zu können22). Die

22) Mon. e. Ann. d. Inst. 1856 T. XIV. Wiener Vorlegebl. Ser. VIII
Taf. 3. Vgl. Heydemann a. a. O. S. 10. Urlichs a. a. O. S. 4.
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[89/0103] mit Blumen in den Händen, die neugierigen Kekropstöchter Herse und Aglauros. Ihnen entgegen eilt mit besorgten Ge- bärden die Hände ausstreckend ein drittes Mädchen Pandrosos; in dem Gemach, aus dem sie herauskommt, sitzen neben einan- der ein bärtiger Mann und ein noch etwas knabenhaft aussehen- der Jüngling. Dieser streckt, wie Pandrosos, den heranfliehenden Mädchen beide Arme entgegen, jener erhebt erstaunt und er- schrocken die Hand. Der Mann ist der Vater Kekrops, der Jüngling sein Sohn Erysichthon, den sich also Brygos und viel- leicht auch die Volkssage bei diesem Ereignis noch lebend denkt. Ich glaube, daſs damit den Anforderungen, die man an die Probabilität einer Deutung stellen kann, hinreichend genügt ist, auch wenn wir über das eine oder das andere Detail keine Aufklärung geben könnten. Schwierigkeiten machen nämlich die stilisierten Blüten, welche die beiden Mädchen in den Händen tragen, und die Ranken und Palmetten, welche von dem Hals und Leib der Erichthoniosschlange auszugehen scheinen. Dieser Umstand veranlaſste O. Jahn zu der Annahme, daſs die Mädchen beim Blumenpflücken von der Schlange überrascht worden wären und daſs wir es mit einer im Übrigen spurlos untergegangenen Version des Kychreus-Mythos zu thun hätten. Indessen scheint es mir die weitaus naheliegendste und einfachste Annahme, daſs die Erichthoniosschlange von Zweigen und Blumen überdeckt in der Kiste lag und daſs die Mädchen neugierig die Zweige auf- hoben und nun noch in den Händen halten. In der Litteratur kann ich diesen Zug freilich augenblicklich nicht nachweisen; aber sollten in einer so einfachen Sache wirklich litterarische Nachweise für nötig erachtet werden? Der dritte der oben aufgezählten Fälle, freie Erfindung eines Pendants zu einem alten Typus, ist weitaus der seltenste: er stellt an das Erfindungsvermögen des Künstlers die gröſsten Anforderungen. Ein sicheres Beispiel dafür glaube ich in einer Schale desselben Malers Brygos anführen zu können 22). Die 22) Mon. e. Ann. d. Inst. 1856 T. XIV. Wiener Vorlegebl. Ser. VIII Taf. 3. Vgl. Heydemann a. a. O. S. 10. Urlichs a. a. O. S. 4.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/103>, abgerufen am 02.05.2024.