Riehl, Wilhelm Heinrich: Jörg Muckenbuber. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 67–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.nie gesehen und doch so nahe gestanden. Die kinderlose Wittwe hatte in dieser Stunde zum ersten Mal mit der vollen Empfindung einer Mutter den Kindesnamen ausgesprochen, und der Landstreicher, welcher nie seine Mutter gekannt, zum ersten Mal den Mutternamen in tiefster kindlicher Ehrfurcht. Frau Hollin verbarg sich in derselben Nacht noch bei treuen Freunden, um mit dem nächsten Tage nach Ulm zu entkommen. Jörg aber schlüpfte hinüber in das leere Hexenkämmerlein, und als am Morgen der Eisenmeister an die Thüre kam, um die karge Speise durch einen Schieber herein zu befördern, kauerte er sich, in den zurückgelassenen Mantel der Frau gehüllt, in die hinterste Ecke, und als der Mann dann weiter zu der Thüre seines eigenen Kerkers ging, schlüpfte er geschwind durch das Mauerloch hinüber und nahm nun als Jörg Muckenhuber die andere Portion in Empfang. So trieb er es fast eine Woche mit vielem Geschick und stillem Vergnügen, wenn ihm nicht der Gram über den Verlust der treuen Nachbarin die Freude erstickt hätte. Eines Tages öffnete sich jedoch nicht bloß der Schieber, sondern die ganze Thür, und herein trat der Stadtschreiber mit dem Eisenmeister und forderte die Hollin auf, ihm zur Gerichtsstube zu folgen. Jörg spielte seine Rolle weiter, so lange es gehen wollte, drückte sich wie aus höchster Angst in den dunkeln Winkel und wies die Andringenden mit stummer Geberde zurück. Als aber der Stadtschreiber ermunternd nie gesehen und doch so nahe gestanden. Die kinderlose Wittwe hatte in dieser Stunde zum ersten Mal mit der vollen Empfindung einer Mutter den Kindesnamen ausgesprochen, und der Landstreicher, welcher nie seine Mutter gekannt, zum ersten Mal den Mutternamen in tiefster kindlicher Ehrfurcht. Frau Hollin verbarg sich in derselben Nacht noch bei treuen Freunden, um mit dem nächsten Tage nach Ulm zu entkommen. Jörg aber schlüpfte hinüber in das leere Hexenkämmerlein, und als am Morgen der Eisenmeister an die Thüre kam, um die karge Speise durch einen Schieber herein zu befördern, kauerte er sich, in den zurückgelassenen Mantel der Frau gehüllt, in die hinterste Ecke, und als der Mann dann weiter zu der Thüre seines eigenen Kerkers ging, schlüpfte er geschwind durch das Mauerloch hinüber und nahm nun als Jörg Muckenhuber die andere Portion in Empfang. So trieb er es fast eine Woche mit vielem Geschick und stillem Vergnügen, wenn ihm nicht der Gram über den Verlust der treuen Nachbarin die Freude erstickt hätte. Eines Tages öffnete sich jedoch nicht bloß der Schieber, sondern die ganze Thür, und herein trat der Stadtschreiber mit dem Eisenmeister und forderte die Hollin auf, ihm zur Gerichtsstube zu folgen. Jörg spielte seine Rolle weiter, so lange es gehen wollte, drückte sich wie aus höchster Angst in den dunkeln Winkel und wies die Andringenden mit stummer Geberde zurück. Als aber der Stadtschreiber ermunternd <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0024"/> nie gesehen und doch so nahe gestanden. Die kinderlose Wittwe hatte in dieser Stunde zum ersten Mal mit der vollen Empfindung einer Mutter den Kindesnamen ausgesprochen, und der Landstreicher, welcher nie seine Mutter gekannt, zum ersten Mal den Mutternamen in tiefster kindlicher Ehrfurcht.</p><lb/> <p>Frau Hollin verbarg sich in derselben Nacht noch bei treuen Freunden, um mit dem nächsten Tage nach Ulm zu entkommen. Jörg aber schlüpfte hinüber in das leere Hexenkämmerlein, und als am Morgen der Eisenmeister an die Thüre kam, um die karge Speise durch einen Schieber herein zu befördern, kauerte er sich, in den zurückgelassenen Mantel der Frau gehüllt, in die hinterste Ecke, und als der Mann dann weiter zu der Thüre seines eigenen Kerkers ging, schlüpfte er geschwind durch das Mauerloch hinüber und nahm nun als Jörg Muckenhuber die andere Portion in Empfang. So trieb er es fast eine Woche mit vielem Geschick und stillem Vergnügen, wenn ihm nicht der Gram über den Verlust der treuen Nachbarin die Freude erstickt hätte.</p><lb/> <p>Eines Tages öffnete sich jedoch nicht bloß der Schieber, sondern die ganze Thür, und herein trat der Stadtschreiber mit dem Eisenmeister und forderte die Hollin auf, ihm zur Gerichtsstube zu folgen. Jörg spielte seine Rolle weiter, so lange es gehen wollte, drückte sich wie aus höchster Angst in den dunkeln Winkel und wies die Andringenden mit stummer Geberde zurück. Als aber der Stadtschreiber ermunternd<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0024]
nie gesehen und doch so nahe gestanden. Die kinderlose Wittwe hatte in dieser Stunde zum ersten Mal mit der vollen Empfindung einer Mutter den Kindesnamen ausgesprochen, und der Landstreicher, welcher nie seine Mutter gekannt, zum ersten Mal den Mutternamen in tiefster kindlicher Ehrfurcht.
Frau Hollin verbarg sich in derselben Nacht noch bei treuen Freunden, um mit dem nächsten Tage nach Ulm zu entkommen. Jörg aber schlüpfte hinüber in das leere Hexenkämmerlein, und als am Morgen der Eisenmeister an die Thüre kam, um die karge Speise durch einen Schieber herein zu befördern, kauerte er sich, in den zurückgelassenen Mantel der Frau gehüllt, in die hinterste Ecke, und als der Mann dann weiter zu der Thüre seines eigenen Kerkers ging, schlüpfte er geschwind durch das Mauerloch hinüber und nahm nun als Jörg Muckenhuber die andere Portion in Empfang. So trieb er es fast eine Woche mit vielem Geschick und stillem Vergnügen, wenn ihm nicht der Gram über den Verlust der treuen Nachbarin die Freude erstickt hätte.
Eines Tages öffnete sich jedoch nicht bloß der Schieber, sondern die ganze Thür, und herein trat der Stadtschreiber mit dem Eisenmeister und forderte die Hollin auf, ihm zur Gerichtsstube zu folgen. Jörg spielte seine Rolle weiter, so lange es gehen wollte, drückte sich wie aus höchster Angst in den dunkeln Winkel und wies die Andringenden mit stummer Geberde zurück. Als aber der Stadtschreiber ermunternd
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Zitationshilfe: | Riehl, Wilhelm Heinrich: Jörg Muckenbuber. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 67–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riehl_muckenhuber_1910/24>, abgerufen am 16.02.2025. |