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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Egyptisches.
lerischen Anschauung der ältesten Egypter für die Erklärung zu Hilfe
nehmen -- mit dem Blatttypus der Denkmäler vereinigen lässt8).

Von den einzelnen Theilen der Lotuspflanze, die in der bildenden
Kunst des alten Egyptens zur Darstellung gelangt sind, nimmt weitaus
das grösste Interesse die Blüthe in Anspruch. Wir wollen daher die
minder wichtigen Theile, Knospe und Blatt, gleich Eingangs abthun,
um später nicht mehr darauf zurückkommen zu müssen. Das Charak-
teristische des Lotus-Blattes (Fig. 9) ist, wie oben erwähnt wurde, der
Spalt, der oft nahezu bis zur Mitte des Blattes reicht. Die Grundform
lässt sich am besten einer Schaufel vergleichen; die dem Spalt entgegen-
gesetzte Seite ist zumeist im Halbkreis abgerundet, doch läuft sie nicht
selten auch in eine Spitze aus, die gelegentlich sogar etwas geschweift
erscheint. In dieser letzteren Form, die mit dem Epheublatt grosse

[Abbildung] Fig. 9.

Lotusblatt.

[Abbildung] Fig. 10.

Lotusknospe.

Aehnlichkeit zeigt, wäre das Blatt in die griechische Kunst über-
gegangen, sofern nämlich Goodyear Recht hat, indem er das mykenische
Epheublatt als Nachbildung des zugespitzten egyptischen Lotusblattes
erklärt. Was mich zögern lässt, dieser Meinung Goodyears schlankweg
beizustimmen, ist der Umstand, dass das Epheublatt in der mykenischen
Kunst in solchen Verbindungen auftritt, wie sie der egyptischen Kunst
fremd, für die spätere hellenische aber charakteristisch gewesen sind.
Hiervon wird übrigens im Capitel über die mykenische Pflanzenorna-
mentik noch im Besonderen zu handeln sein.


8) Die hellenistisch-römische Kunst in ihrer naturalisirenden Tendenz hat
dagegen auch das Nelumbium speciosum, die essbare, von Herodot erwähnte
Species dargestellt, wie die pompejanischen Nil-Mosaiken in Neapel zeigen:
geschuppte Knospen, Fruchtknoten in Form eines Spritzkannen-Siebes, und
die Trichterblätter in nahezu perspektivischer Projektion.
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1. Egyptisches.
lerischen Anschauung der ältesten Egypter für die Erklärung zu Hilfe
nehmen — mit dem Blatttypus der Denkmäler vereinigen lässt8).

Von den einzelnen Theilen der Lotuspflanze, die in der bildenden
Kunst des alten Egyptens zur Darstellung gelangt sind, nimmt weitaus
das grösste Interesse die Blüthe in Anspruch. Wir wollen daher die
minder wichtigen Theile, Knospe und Blatt, gleich Eingangs abthun,
um später nicht mehr darauf zurückkommen zu müssen. Das Charak-
teristische des Lotus-Blattes (Fig. 9) ist, wie oben erwähnt wurde, der
Spalt, der oft nahezu bis zur Mitte des Blattes reicht. Die Grundform
lässt sich am besten einer Schaufel vergleichen; die dem Spalt entgegen-
gesetzte Seite ist zumeist im Halbkreis abgerundet, doch läuft sie nicht
selten auch in eine Spitze aus, die gelegentlich sogar etwas geschweift
erscheint. In dieser letzteren Form, die mit dem Epheublatt grosse

[Abbildung] Fig. 9.

Lotusblatt.

[Abbildung] Fig. 10.

Lotusknospe.

Aehnlichkeit zeigt, wäre das Blatt in die griechische Kunst über-
gegangen, sofern nämlich Goodyear Recht hat, indem er das mykenische
Epheublatt als Nachbildung des zugespitzten egyptischen Lotusblattes
erklärt. Was mich zögern lässt, dieser Meinung Goodyears schlankweg
beizustimmen, ist der Umstand, dass das Epheublatt in der mykenischen
Kunst in solchen Verbindungen auftritt, wie sie der egyptischen Kunst
fremd, für die spätere hellenische aber charakteristisch gewesen sind.
Hiervon wird übrigens im Capitel über die mykenische Pflanzenorna-
mentik noch im Besonderen zu handeln sein.


8) Die hellenistisch-römische Kunst in ihrer naturalisirenden Tendenz hat
dagegen auch das Nelumbium speciosum, die essbare, von Herodot erwähnte
Species dargestellt, wie die pompejanischen Nil-Mosaiken in Neapel zeigen:
geschuppte Knospen, Fruchtknoten in Form eines Spritzkannen-Siebes, und
die Trichterblätter in nahezu perspektivischer Projektion.
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[51/0077] 1. Egyptisches. lerischen Anschauung der ältesten Egypter für die Erklärung zu Hilfe nehmen — mit dem Blatttypus der Denkmäler vereinigen lässt 8). Von den einzelnen Theilen der Lotuspflanze, die in der bildenden Kunst des alten Egyptens zur Darstellung gelangt sind, nimmt weitaus das grösste Interesse die Blüthe in Anspruch. Wir wollen daher die minder wichtigen Theile, Knospe und Blatt, gleich Eingangs abthun, um später nicht mehr darauf zurückkommen zu müssen. Das Charak- teristische des Lotus-Blattes (Fig. 9) ist, wie oben erwähnt wurde, der Spalt, der oft nahezu bis zur Mitte des Blattes reicht. Die Grundform lässt sich am besten einer Schaufel vergleichen; die dem Spalt entgegen- gesetzte Seite ist zumeist im Halbkreis abgerundet, doch läuft sie nicht selten auch in eine Spitze aus, die gelegentlich sogar etwas geschweift erscheint. In dieser letzteren Form, die mit dem Epheublatt grosse [Abbildung Fig. 9. Lotusblatt.] [Abbildung Fig. 10. Lotusknospe.] Aehnlichkeit zeigt, wäre das Blatt in die griechische Kunst über- gegangen, sofern nämlich Goodyear Recht hat, indem er das mykenische Epheublatt als Nachbildung des zugespitzten egyptischen Lotusblattes erklärt. Was mich zögern lässt, dieser Meinung Goodyears schlankweg beizustimmen, ist der Umstand, dass das Epheublatt in der mykenischen Kunst in solchen Verbindungen auftritt, wie sie der egyptischen Kunst fremd, für die spätere hellenische aber charakteristisch gewesen sind. Hiervon wird übrigens im Capitel über die mykenische Pflanzenorna- mentik noch im Besonderen zu handeln sein. 8) Die hellenistisch-römische Kunst in ihrer naturalisirenden Tendenz hat dagegen auch das Nelumbium speciosum, die essbare, von Herodot erwähnte Species dargestellt, wie die pompejanischen Nil-Mosaiken in Neapel zeigen: geschuppte Knospen, Fruchtknoten in Form eines Spritzkannen-Siebes, und die Trichterblätter in nahezu perspektivischer Projektion. 4*

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/77>, abgerufen am 28.04.2024.