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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der Wappenstil.
schung der freien Bindungen, beliebig konturirte Figuren wiederzugeben;
denn nur eine solche bis zu einem gewissen Grade mechanische Art
der Weberei bedarf der symmetrischen Wiederholung der einzelnen
Figuren, wie sie Curtius7) ganz richtig an den sassanidischen Seiden-
stoffen beobachtet hat.

Curtius' Vermuthung hinsichtlich der Assyrer stützt sich auf die
Wahrnehmung, dass auf den in Steinrelief dargestellten Gewändern
einiger Könige, insbesondere des Assurnasirpal zu Nimrud, sich Bor-
düren finden, in denen die wappenartigen Gruppen von paarweisen
Thieren (Fig. 4), Menschen, Fabelwesen sich fortwährend wiederholen,
nach einem Schema wie es in der That auch an sassanidischen Seiden-
stoffen zu sehen ist. Curtius glaubte daraus sofort auf Seiden-Kunst-
webereien, als unmittelbare autochthone Vorbilder schliessen zu dürfen.
Semper, der diese wandverkleidenden Reliefs der assyrischen Königs-
paläste gleichfalls mit steinernen Tapeten identificirt hat, drückte sich
aber in Bezug auf die technische Erklärung der im Wappenstil gehal-
tenen Thiere weit vorsichtiger aus. Als Techniker mochte er wahr-
scheinlich das Gewagte einer Behauptung wie derjenigen Curtius' ein-
gesehen haben; er erblickte darin nicht Kunstwebereien, sondern
Stickereien8), was an und für sich viel mehr Wahrscheinlichkeit bean-
spruchen darf, da die technische Ausführung in diesem Falle weit ge-
ringere Schwierigkeiten bereitet hätte.

Die Hypothese von der Entstehung des Wappenstils aus einer alt-
assyrischen Kunstweberei wird aber noch unhaltbarer, sobald wir das-
jenige in Betracht ziehen, was wir in den letzten Jahren über das
Wesen der Textilkunst im Alterthum in Erfahrung gebracht haben.
Als die weitaus maassgebendste Technik hat sich die Wirkerei (Gobelin-
technik) herausgestellt9). Gewirkte Einsätze mit Figuren in genau der-
selben wappenartigen Symmetrie, aber von klassischer Formgebung,
sind unter den egyptischen Gräberfunden aus spätantiker und früh-
mittelalterlicher Zeit (Fig. 5) zahlreich an den Tag gekommen. Da-
gegen befand sich die Seidenkunstweberei denselben Funden zufolge
in spätantiker Zeit noch auf einer ziemlich niedrigen Stufe der Ent-
wicklung. Essenwein berichtet über einen der in's Germanische Museum
gelangten spätantiken Seidenstoffe folgendermaassen: "Man sieht deut-

7) Wie ich erfahre, unter A. Pabst's (Cöln) kundiger Anleitung.
8) Stil I. 325.
9) In dieser Technik sind auch aller Wahrscheinlichkeit nach die wappen-
artigen Thiere auf den assyrischen Königsgewändern ausgeführt gewesen.

Der Wappenstil.
schung der freien Bindungen, beliebig konturirte Figuren wiederzugeben;
denn nur eine solche bis zu einem gewissen Grade mechanische Art
der Weberei bedarf der symmetrischen Wiederholung der einzelnen
Figuren, wie sie Curtius7) ganz richtig an den sassanidischen Seiden-
stoffen beobachtet hat.

Curtius’ Vermuthung hinsichtlich der Assyrer stützt sich auf die
Wahrnehmung, dass auf den in Steinrelief dargestellten Gewändern
einiger Könige, insbesondere des Assurnasirpal zu Nimrud, sich Bor-
düren finden, in denen die wappenartigen Gruppen von paarweisen
Thieren (Fig. 4), Menschen, Fabelwesen sich fortwährend wiederholen,
nach einem Schema wie es in der That auch an sassanidischen Seiden-
stoffen zu sehen ist. Curtius glaubte daraus sofort auf Seiden-Kunst-
webereien, als unmittelbare autochthone Vorbilder schliessen zu dürfen.
Semper, der diese wandverkleidenden Reliefs der assyrischen Königs-
paläste gleichfalls mit steinernen Tapeten identificirt hat, drückte sich
aber in Bezug auf die technische Erklärung der im Wappenstil gehal-
tenen Thiere weit vorsichtiger aus. Als Techniker mochte er wahr-
scheinlich das Gewagte einer Behauptung wie derjenigen Curtius’ ein-
gesehen haben; er erblickte darin nicht Kunstwebereien, sondern
Stickereien8), was an und für sich viel mehr Wahrscheinlichkeit bean-
spruchen darf, da die technische Ausführung in diesem Falle weit ge-
ringere Schwierigkeiten bereitet hätte.

Die Hypothese von der Entstehung des Wappenstils aus einer alt-
assyrischen Kunstweberei wird aber noch unhaltbarer, sobald wir das-
jenige in Betracht ziehen, was wir in den letzten Jahren über das
Wesen der Textilkunst im Alterthum in Erfahrung gebracht haben.
Als die weitaus maassgebendste Technik hat sich die Wirkerei (Gobelin-
technik) herausgestellt9). Gewirkte Einsätze mit Figuren in genau der-
selben wappenartigen Symmetrie, aber von klassischer Formgebung,
sind unter den egyptischen Gräberfunden aus spätantiker und früh-
mittelalterlicher Zeit (Fig. 5) zahlreich an den Tag gekommen. Da-
gegen befand sich die Seidenkunstweberei denselben Funden zufolge
in spätantiker Zeit noch auf einer ziemlich niedrigen Stufe der Ent-
wicklung. Essenwein berichtet über einen der in’s Germanische Museum
gelangten spätantiken Seidenstoffe folgendermaassen: „Man sieht deut-

7) Wie ich erfahre, unter A. Pabst’s (Cöln) kundiger Anleitung.
8) Stil I. 325.
9) In dieser Technik sind auch aller Wahrscheinlichkeit nach die wappen-
artigen Thiere auf den assyrischen Königsgewändern ausgeführt gewesen.
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[36/0062] Der Wappenstil. schung der freien Bindungen, beliebig konturirte Figuren wiederzugeben; denn nur eine solche bis zu einem gewissen Grade mechanische Art der Weberei bedarf der symmetrischen Wiederholung der einzelnen Figuren, wie sie Curtius 7) ganz richtig an den sassanidischen Seiden- stoffen beobachtet hat. Curtius’ Vermuthung hinsichtlich der Assyrer stützt sich auf die Wahrnehmung, dass auf den in Steinrelief dargestellten Gewändern einiger Könige, insbesondere des Assurnasirpal zu Nimrud, sich Bor- düren finden, in denen die wappenartigen Gruppen von paarweisen Thieren (Fig. 4), Menschen, Fabelwesen sich fortwährend wiederholen, nach einem Schema wie es in der That auch an sassanidischen Seiden- stoffen zu sehen ist. Curtius glaubte daraus sofort auf Seiden-Kunst- webereien, als unmittelbare autochthone Vorbilder schliessen zu dürfen. Semper, der diese wandverkleidenden Reliefs der assyrischen Königs- paläste gleichfalls mit steinernen Tapeten identificirt hat, drückte sich aber in Bezug auf die technische Erklärung der im Wappenstil gehal- tenen Thiere weit vorsichtiger aus. Als Techniker mochte er wahr- scheinlich das Gewagte einer Behauptung wie derjenigen Curtius’ ein- gesehen haben; er erblickte darin nicht Kunstwebereien, sondern Stickereien 8), was an und für sich viel mehr Wahrscheinlichkeit bean- spruchen darf, da die technische Ausführung in diesem Falle weit ge- ringere Schwierigkeiten bereitet hätte. Die Hypothese von der Entstehung des Wappenstils aus einer alt- assyrischen Kunstweberei wird aber noch unhaltbarer, sobald wir das- jenige in Betracht ziehen, was wir in den letzten Jahren über das Wesen der Textilkunst im Alterthum in Erfahrung gebracht haben. Als die weitaus maassgebendste Technik hat sich die Wirkerei (Gobelin- technik) herausgestellt 9). Gewirkte Einsätze mit Figuren in genau der- selben wappenartigen Symmetrie, aber von klassischer Formgebung, sind unter den egyptischen Gräberfunden aus spätantiker und früh- mittelalterlicher Zeit (Fig. 5) zahlreich an den Tag gekommen. Da- gegen befand sich die Seidenkunstweberei denselben Funden zufolge in spätantiker Zeit noch auf einer ziemlich niedrigen Stufe der Ent- wicklung. Essenwein berichtet über einen der in’s Germanische Museum gelangten spätantiken Seidenstoffe folgendermaassen: „Man sieht deut- 7) Wie ich erfahre, unter A. Pabst’s (Cöln) kundiger Anleitung. 8) Stil I. 325. 9) In dieser Technik sind auch aller Wahrscheinlichkeit nach die wappen- artigen Thiere auf den assyrischen Königsgewändern ausgeführt gewesen.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/62>, abgerufen am 27.04.2024.