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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
wieder. Dann haben wir eine ganze Stufenleiter von Entwicklungs-
phasen, in denen sich der plastische Charakter allmälig verflüchtigt:
zunächst ein flach gehaltenes Rundwerk, dann ein mehr oder minder
hohes Relief, ein Flachrelief, und endlich die blosse Gravirung (Fig. 2),
die häufig mit dem Flachrelief zusammen entgegentritt, indem eines
in das andere übergeht.

Es entspricht dies völlig dem natürlichen Processe, den wir uns
schon am Eingange dieses Capitels in rein spekulativer Weise konstruirt
haben. Die unmittelbare Reproduction der Naturwesen in ihrer vollen
körperlichen Erscheinung, im Wege des durch einen weiter unten zu be-
zeichnenden psychischen Vorgang zur Bethätigung angespornten Nach-
ahmungstriebes, steht hiernach am Anfange alles Kunstschaffens: die
ältesten Kunstwerke sind plastischer Natur. Da man die Naturwesen
immer nur von einer Seite sieht, lernt man sich mit dem Relief be-
gnügen, das eben nur so viel vom plastischen Scheine wiedergiebt, als
das menschliche Auge braucht. So gewöhnt man sich an die Darstel-
lung in einer Fläche und gelangt zum Begriffe der Umrisslinie. Endlich
verzichtet man auf den plastischen Schein vollständig, und ersetzt den-
selben durch die Modellirung mittels der Zeichnung.

Das wichtigste Moment in diesem ganzen Processe ist zweifellos
das Aufkommen der Umrisslinie, mittels welcher man das Bild eines
Naturwesens auf eine gegebene Fläche bannte. Hiemit war die Linie
als Element aller Zeichnung, aller Malerei, überhaupt aller in der
Fläche bildenden Kunst erfunden. Diesen Schritt hatten die Troglodyten
Aquitaniens bereits weit hinter sich, trotzdem ihnen die Fadenkreu-
zungen der Textilkunst wegen Mangels eines Bedürfnisses nach den
Erzeugnissen derselben noch völlig fremd gewesen sein müssen. Das
technische Moment spielt gewiss auch innerhalb des geschilderten Pro-
cesses eine Rolle, aber beiweitem nicht jene führende Rolle, wie sie ihm
die Anhänger der technisch-materiellen Entstehungstheorie vindiciren
möchten. Der Anstoss ging vielmehr nicht von der Technik, sondern
von dem bestimmten Kunstwollen aus. Man wollte das Abbild eines
Naturwesens in todtem Material schaffen, und erfand sich hierzu die
nöthige Technik. Zum Zwecke des handsameren Greifens war die
Rundfigur eines Rennthiers als Dolchgriff gewiss nicht nothwendig.
Ein immanenter künstlerischer Trieb, der im Menschen rege und nach
Durchbruch ringend vorhanden war vor aller Erfindung textiler Schutz-
wehren für den Körper, musste ihn dazu geführt haben den beinernen
Griff in Form eines Rennthieres zu bilden.


Der geometrische Stil.
wieder. Dann haben wir eine ganze Stufenleiter von Entwicklungs-
phasen, in denen sich der plastische Charakter allmälig verflüchtigt:
zunächst ein flach gehaltenes Rundwerk, dann ein mehr oder minder
hohes Relief, ein Flachrelief, und endlich die blosse Gravirung (Fig. 2),
die häufig mit dem Flachrelief zusammen entgegentritt, indem eines
in das andere übergeht.

Es entspricht dies völlig dem natürlichen Processe, den wir uns
schon am Eingange dieses Capitels in rein spekulativer Weise konstruirt
haben. Die unmittelbare Reproduction der Naturwesen in ihrer vollen
körperlichen Erscheinung, im Wege des durch einen weiter unten zu be-
zeichnenden psychischen Vorgang zur Bethätigung angespornten Nach-
ahmungstriebes, steht hiernach am Anfange alles Kunstschaffens: die
ältesten Kunstwerke sind plastischer Natur. Da man die Naturwesen
immer nur von einer Seite sieht, lernt man sich mit dem Relief be-
gnügen, das eben nur so viel vom plastischen Scheine wiedergiebt, als
das menschliche Auge braucht. So gewöhnt man sich an die Darstel-
lung in einer Fläche und gelangt zum Begriffe der Umrisslinie. Endlich
verzichtet man auf den plastischen Schein vollständig, und ersetzt den-
selben durch die Modellirung mittels der Zeichnung.

Das wichtigste Moment in diesem ganzen Processe ist zweifellos
das Aufkommen der Umrisslinie, mittels welcher man das Bild eines
Naturwesens auf eine gegebene Fläche bannte. Hiemit war die Linie
als Element aller Zeichnung, aller Malerei, überhaupt aller in der
Fläche bildenden Kunst erfunden. Diesen Schritt hatten die Troglodyten
Aquitaniens bereits weit hinter sich, trotzdem ihnen die Fadenkreu-
zungen der Textilkunst wegen Mangels eines Bedürfnisses nach den
Erzeugnissen derselben noch völlig fremd gewesen sein müssen. Das
technische Moment spielt gewiss auch innerhalb des geschilderten Pro-
cesses eine Rolle, aber beiweitem nicht jene führende Rolle, wie sie ihm
die Anhänger der technisch-materiellen Entstehungstheorie vindiciren
möchten. Der Anstoss ging vielmehr nicht von der Technik, sondern
von dem bestimmten Kunstwollen aus. Man wollte das Abbild eines
Naturwesens in todtem Material schaffen, und erfand sich hierzu die
nöthige Technik. Zum Zwecke des handsameren Greifens war die
Rundfigur eines Rennthiers als Dolchgriff gewiss nicht nothwendig.
Ein immanenter künstlerischer Trieb, der im Menschen rege und nach
Durchbruch ringend vorhanden war vor aller Erfindung textiler Schutz-
wehren für den Körper, musste ihn dazu geführt haben den beinernen
Griff in Form eines Rennthieres zu bilden.


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[20/0046] Der geometrische Stil. wieder. Dann haben wir eine ganze Stufenleiter von Entwicklungs- phasen, in denen sich der plastische Charakter allmälig verflüchtigt: zunächst ein flach gehaltenes Rundwerk, dann ein mehr oder minder hohes Relief, ein Flachrelief, und endlich die blosse Gravirung (Fig. 2), die häufig mit dem Flachrelief zusammen entgegentritt, indem eines in das andere übergeht. Es entspricht dies völlig dem natürlichen Processe, den wir uns schon am Eingange dieses Capitels in rein spekulativer Weise konstruirt haben. Die unmittelbare Reproduction der Naturwesen in ihrer vollen körperlichen Erscheinung, im Wege des durch einen weiter unten zu be- zeichnenden psychischen Vorgang zur Bethätigung angespornten Nach- ahmungstriebes, steht hiernach am Anfange alles Kunstschaffens: die ältesten Kunstwerke sind plastischer Natur. Da man die Naturwesen immer nur von einer Seite sieht, lernt man sich mit dem Relief be- gnügen, das eben nur so viel vom plastischen Scheine wiedergiebt, als das menschliche Auge braucht. So gewöhnt man sich an die Darstel- lung in einer Fläche und gelangt zum Begriffe der Umrisslinie. Endlich verzichtet man auf den plastischen Schein vollständig, und ersetzt den- selben durch die Modellirung mittels der Zeichnung. Das wichtigste Moment in diesem ganzen Processe ist zweifellos das Aufkommen der Umrisslinie, mittels welcher man das Bild eines Naturwesens auf eine gegebene Fläche bannte. Hiemit war die Linie als Element aller Zeichnung, aller Malerei, überhaupt aller in der Fläche bildenden Kunst erfunden. Diesen Schritt hatten die Troglodyten Aquitaniens bereits weit hinter sich, trotzdem ihnen die Fadenkreu- zungen der Textilkunst wegen Mangels eines Bedürfnisses nach den Erzeugnissen derselben noch völlig fremd gewesen sein müssen. Das technische Moment spielt gewiss auch innerhalb des geschilderten Pro- cesses eine Rolle, aber beiweitem nicht jene führende Rolle, wie sie ihm die Anhänger der technisch-materiellen Entstehungstheorie vindiciren möchten. Der Anstoss ging vielmehr nicht von der Technik, sondern von dem bestimmten Kunstwollen aus. Man wollte das Abbild eines Naturwesens in todtem Material schaffen, und erfand sich hierzu die nöthige Technik. Zum Zwecke des handsameren Greifens war die Rundfigur eines Rennthiers als Dolchgriff gewiss nicht nothwendig. Ein immanenter künstlerischer Trieb, der im Menschen rege und nach Durchbruch ringend vorhanden war vor aller Erfindung textiler Schutz- wehren für den Körper, musste ihn dazu geführt haben den beinernen Griff in Form eines Rennthieres zu bilden.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/46>, abgerufen am 25.04.2024.