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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
rückwärts verfolgen konnte, die Technik ausfindig zu machen, die
sozusagen spontan, mit Ausschluss bewusst künstlerischer Erfindung,
auf die Schaffung des betreffenden Motives geführt haben mochte. Es
ist die Theorie von der technisch-materiellen Entstehung der
künstlerischen Urformen
, die zur schrankenlosen Geltung in der
Archäologie erhoben wurde und innerhalb welcher die Theorie von der
Entstehung der geradlinigen geometrischen Ornamente aus den textilen
Techniken nur eine Unterabtheilung bildet, so wie die geradlinigen
geometrischen Ornamente selbst nur einen Bruchtheil von sämmtlichen
nachweisbaren primitiven Ornamenten. Mit einer Sicherheit, als wenn
sie persönlich dabeigewesen wären und Material und Werkzeug des
kunsterweckenden Urmenschen gesehen hätten, wussten die Archäologen
die textilen, die metallurgischen, die stereotomischen u. s. w. Techniken
für die einzelnen Ziermotive auf den ältesten Vasen anzugeben. Eine
Unsumme von Arbeit wurde an diese Versuche verschwendet, die ver-
schiedensten Combinationen versucht, die verschiedensten Techniken
für ein und dasselbe Motiv ins Feld geführt, wie sich dies bei der
Natur der Sache von selbst versteht. Und gleichwie der Deutsche
Häckel Darwin's Theorie am konsequentesten und autoritativsten aus-
gebildet hat, so waren es auch unter den Archäologen wiederum die
Deutschen, die hierin am entschiedensten vorangeschritten sind. Wie
weit sie hiebei über die Anschauung des eigentlichen Vaters dieser
Theorie, Gottfried Semper's, hinausgegangen sind, möge eine Stelle aus
dessen Stil II. 87 lehren, die ich im Wortlaute hieher setze:

Die Regel, dass die dekorative Ausstattung des Gefässes dem bei
seiner Ausführung anzuwendenden Stoffe und der Art seiner Bearbeitung
entsprechen soll, "führt auf schwer zu lösende Zweifel über den tech-
nischen Ursprung vieler typisch gewordenen dekorativen Formen, über
die Frage, in welchem Stoffe sie zuerst dargestellt wurden, wegen der
frühen Wechselbeziehungen und Einflüsse welche die Stoffe auf diesem
Gebiete, den Stil eines jeden unter ihnen modificirend, gegenseitig aus-
übten. So bleibt es dahingestellt, ob die Zonen von Zickzackorna-
menten, Wellen und Schnörkeln, die theils gemalt theils vertieft auf den
Oberflächen der ältesten Thongefässe fast überall gleichmässig vor-
kommen, ob sie die Vorbilder oder die Abbilder der gleichen flachver-
tieften Verzierungen auf ältesten Bronzegeräthen und metallenen Waffen-
stücken sind, oder ob sie keinem von beiden Stoffen ursprünglich an-
gehören. . . . Erst mit vorgerückter Kunst beginnt die bewusst-
volle Unterscheidung und künstlerische Verwerthung der

Der geometrische Stil.
rückwärts verfolgen konnte, die Technik ausfindig zu machen, die
sozusagen spontan, mit Ausschluss bewusst künstlerischer Erfindung,
auf die Schaffung des betreffenden Motives geführt haben mochte. Es
ist die Theorie von der technisch-materiellen Entstehung der
künstlerischen Urformen
, die zur schrankenlosen Geltung in der
Archäologie erhoben wurde und innerhalb welcher die Theorie von der
Entstehung der geradlinigen geometrischen Ornamente aus den textilen
Techniken nur eine Unterabtheilung bildet, so wie die geradlinigen
geometrischen Ornamente selbst nur einen Bruchtheil von sämmtlichen
nachweisbaren primitiven Ornamenten. Mit einer Sicherheit, als wenn
sie persönlich dabeigewesen wären und Material und Werkzeug des
kunsterweckenden Urmenschen gesehen hätten, wussten die Archäologen
die textilen, die metallurgischen, die stereotomischen u. s. w. Techniken
für die einzelnen Ziermotive auf den ältesten Vasen anzugeben. Eine
Unsumme von Arbeit wurde an diese Versuche verschwendet, die ver-
schiedensten Combinationen versucht, die verschiedensten Techniken
für ein und dasselbe Motiv ins Feld geführt, wie sich dies bei der
Natur der Sache von selbst versteht. Und gleichwie der Deutsche
Häckel Darwin’s Theorie am konsequentesten und autoritativsten aus-
gebildet hat, so waren es auch unter den Archäologen wiederum die
Deutschen, die hierin am entschiedensten vorangeschritten sind. Wie
weit sie hiebei über die Anschauung des eigentlichen Vaters dieser
Theorie, Gottfried Semper’s, hinausgegangen sind, möge eine Stelle aus
dessen Stil II. 87 lehren, die ich im Wortlaute hieher setze:

Die Regel, dass die dekorative Ausstattung des Gefässes dem bei
seiner Ausführung anzuwendenden Stoffe und der Art seiner Bearbeitung
entsprechen soll, „führt auf schwer zu lösende Zweifel über den tech-
nischen Ursprung vieler typisch gewordenen dekorativen Formen, über
die Frage, in welchem Stoffe sie zuerst dargestellt wurden, wegen der
frühen Wechselbeziehungen und Einflüsse welche die Stoffe auf diesem
Gebiete, den Stil eines jeden unter ihnen modificirend, gegenseitig aus-
übten. So bleibt es dahingestellt, ob die Zonen von Zickzackorna-
menten, Wellen und Schnörkeln, die theils gemalt theils vertieft auf den
Oberflächen der ältesten Thongefässe fast überall gleichmässig vor-
kommen, ob sie die Vorbilder oder die Abbilder der gleichen flachver-
tieften Verzierungen auf ältesten Bronzegeräthen und metallenen Waffen-
stücken sind, oder ob sie keinem von beiden Stoffen ursprünglich an-
gehören. . . . Erst mit vorgerückter Kunst beginnt die bewusst-
volle Unterscheidung und künstlerische Verwerthung der

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[11/0037] Der geometrische Stil. rückwärts verfolgen konnte, die Technik ausfindig zu machen, die sozusagen spontan, mit Ausschluss bewusst künstlerischer Erfindung, auf die Schaffung des betreffenden Motives geführt haben mochte. Es ist die Theorie von der technisch-materiellen Entstehung der künstlerischen Urformen, die zur schrankenlosen Geltung in der Archäologie erhoben wurde und innerhalb welcher die Theorie von der Entstehung der geradlinigen geometrischen Ornamente aus den textilen Techniken nur eine Unterabtheilung bildet, so wie die geradlinigen geometrischen Ornamente selbst nur einen Bruchtheil von sämmtlichen nachweisbaren primitiven Ornamenten. Mit einer Sicherheit, als wenn sie persönlich dabeigewesen wären und Material und Werkzeug des kunsterweckenden Urmenschen gesehen hätten, wussten die Archäologen die textilen, die metallurgischen, die stereotomischen u. s. w. Techniken für die einzelnen Ziermotive auf den ältesten Vasen anzugeben. Eine Unsumme von Arbeit wurde an diese Versuche verschwendet, die ver- schiedensten Combinationen versucht, die verschiedensten Techniken für ein und dasselbe Motiv ins Feld geführt, wie sich dies bei der Natur der Sache von selbst versteht. Und gleichwie der Deutsche Häckel Darwin’s Theorie am konsequentesten und autoritativsten aus- gebildet hat, so waren es auch unter den Archäologen wiederum die Deutschen, die hierin am entschiedensten vorangeschritten sind. Wie weit sie hiebei über die Anschauung des eigentlichen Vaters dieser Theorie, Gottfried Semper’s, hinausgegangen sind, möge eine Stelle aus dessen Stil II. 87 lehren, die ich im Wortlaute hieher setze: Die Regel, dass die dekorative Ausstattung des Gefässes dem bei seiner Ausführung anzuwendenden Stoffe und der Art seiner Bearbeitung entsprechen soll, „führt auf schwer zu lösende Zweifel über den tech- nischen Ursprung vieler typisch gewordenen dekorativen Formen, über die Frage, in welchem Stoffe sie zuerst dargestellt wurden, wegen der frühen Wechselbeziehungen und Einflüsse welche die Stoffe auf diesem Gebiete, den Stil eines jeden unter ihnen modificirend, gegenseitig aus- übten. So bleibt es dahingestellt, ob die Zonen von Zickzackorna- menten, Wellen und Schnörkeln, die theils gemalt theils vertieft auf den Oberflächen der ältesten Thongefässe fast überall gleichmässig vor- kommen, ob sie die Vorbilder oder die Abbilder der gleichen flachver- tieften Verzierungen auf ältesten Bronzegeräthen und metallenen Waffen- stücken sind, oder ob sie keinem von beiden Stoffen ursprünglich an- gehören. . . . Erst mit vorgerückter Kunst beginnt die bewusst- volle Unterscheidung und künstlerische Verwerthung der

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/37>, abgerufen am 26.04.2024.