Auch der Umstand, dass bereits in der früheren römischen Kaiser- zeit Lockerungen des griechischen Princips, die Blätter selbständig an eigenen Stielen abzweigen zu lassen, vorgekommen sind, ist Owen Jones nicht entgangen: "Die römischen Ornamente kämpften beständig gegen dieses scheinbar unbewegliche Gesetz an, ohne es zu beseitigen." Aber im Wesentlichen erschien ihm der endgiltige Schritt in justinia- nischer Zeit doch als eine spontane Erfindung, die eine ganz neue Entwicklungsreihe des Pflanzenornaments geschaffen hat. Wir waren im Stande, die frühesten Anfänge und Grundlegungen dieses Processes bis in die griechische Zeit hinauf zu verfolgen, wofür es Owen Jones hauptsächlich schon an der nöthigen Kenntniss und Uebersicht des seither durch die Forschung beigebrachten Materials gefehlt hat. Ferner glaubte Owen Jones das Wesen der ganzen Veränderung darin zu er- blicken, dass nunmehr von byzantinischer Zeit an die Blätter sich un- mittelbar von einer fortlaufenden Ranke, ohne Vermittlung selbständiger Stengel entwickeln. Darin liegt aber doch nicht der Kern der Sache. Dieser ist vielmehr in dem Umstande zu suchen, dass das Blatt seine selbständige Existenz, wie sie ihm in der Natur eigen ist, in der Dekora- tion verliert. Das Blatt zweigt nicht mehr von der Ranke ab, son- dern es durchsetzt die Ranke, verwächst mit derselben. An den byzantinischen Ornamenten von St. Johannes und der Hagia Sophia ist dieses Verhältniss noch nicht so deutlich ausgesprägt, weil die ein- zelnen Theilglieder des ursprünglichen Akanthushalbblatts der Reihe nach scheinbar selbständig von einer Ranke abzweigen. Insofern er- scheint der Process an den beiden gegebenen Beispielen erst auf halbem Wege angelangt. Das in der Arabeske ausgeprägte Schlussresultat, die Ranken von den Spitzenden der unfreien Blätter wiederum weiter laufen zu lassen, findet sich an den byzantinischen Beispielen noch nicht völlig unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Dennoch ist es -- wie wir später sehen werden -- für die frühere byzantinische Kunst schon über alle Zweifel hinaus nachzuweisen.
Wenden wir uns nochmals zurück zur Betrachtung von Fig. 142, wo uns noch zwei Ornamentstreifen des Kapitäls zu besprechen bleiben. Der eine zieht sich zwischen den zwei krönenden Voluten des Kapitäls hin und zeigt eine intermittirende Wellenranke in ihrem nackten Schema. Hier bemerken wir keine Spur von naturalistischen Bildungen: eine blosse glatte Wellenlinie schlängelt sich von Blüthe zu Blüthe. Diese letzteren zeigen den Volutenkelch der flachen Palmette in einer Reducirung, wie sie das oben erörterte Dreiblatt in Fig. 143 aufweist.
Die Arabeske.
Auch der Umstand, dass bereits in der früheren römischen Kaiser- zeit Lockerungen des griechischen Princips, die Blätter selbständig an eigenen Stielen abzweigen zu lassen, vorgekommen sind, ist Owen Jones nicht entgangen: „Die römischen Ornamente kämpften beständig gegen dieses scheinbar unbewegliche Gesetz an, ohne es zu beseitigen.“ Aber im Wesentlichen erschien ihm der endgiltige Schritt in justinia- nischer Zeit doch als eine spontane Erfindung, die eine ganz neue Entwicklungsreihe des Pflanzenornaments geschaffen hat. Wir waren im Stande, die frühesten Anfänge und Grundlegungen dieses Processes bis in die griechische Zeit hinauf zu verfolgen, wofür es Owen Jones hauptsächlich schon an der nöthigen Kenntniss und Uebersicht des seither durch die Forschung beigebrachten Materials gefehlt hat. Ferner glaubte Owen Jones das Wesen der ganzen Veränderung darin zu er- blicken, dass nunmehr von byzantinischer Zeit an die Blätter sich un- mittelbar von einer fortlaufenden Ranke, ohne Vermittlung selbständiger Stengel entwickeln. Darin liegt aber doch nicht der Kern der Sache. Dieser ist vielmehr in dem Umstande zu suchen, dass das Blatt seine selbständige Existenz, wie sie ihm in der Natur eigen ist, in der Dekora- tion verliert. Das Blatt zweigt nicht mehr von der Ranke ab, son- dern es durchsetzt die Ranke, verwächst mit derselben. An den byzantinischen Ornamenten von St. Johannes und der Hagia Sophia ist dieses Verhältniss noch nicht so deutlich ausgesprägt, weil die ein- zelnen Theilglieder des ursprünglichen Akanthushalbblatts der Reihe nach scheinbar selbständig von einer Ranke abzweigen. Insofern er- scheint der Process an den beiden gegebenen Beispielen erst auf halbem Wege angelangt. Das in der Arabeske ausgeprägte Schlussresultat, die Ranken von den Spitzenden der unfreien Blätter wiederum weiter laufen zu lassen, findet sich an den byzantinischen Beispielen noch nicht völlig unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Dennoch ist es — wie wir später sehen werden — für die frühere byzantinische Kunst schon über alle Zweifel hinaus nachzuweisen.
Wenden wir uns nochmals zurück zur Betrachtung von Fig. 142, wo uns noch zwei Ornamentstreifen des Kapitäls zu besprechen bleiben. Der eine zieht sich zwischen den zwei krönenden Voluten des Kapitäls hin und zeigt eine intermittirende Wellenranke in ihrem nackten Schema. Hier bemerken wir keine Spur von naturalistischen Bildungen: eine blosse glatte Wellenlinie schlängelt sich von Blüthe zu Blüthe. Diese letzteren zeigen den Volutenkelch der flachen Palmette in einer Reducirung, wie sie das oben erörterte Dreiblatt in Fig. 143 aufweist.
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Die Arabeske.
Auch der Umstand, dass bereits in der früheren römischen Kaiser-
zeit Lockerungen des griechischen Princips, die Blätter selbständig an
eigenen Stielen abzweigen zu lassen, vorgekommen sind, ist Owen
Jones nicht entgangen: „Die römischen Ornamente kämpften beständig
gegen dieses scheinbar unbewegliche Gesetz an, ohne es zu beseitigen.“
Aber im Wesentlichen erschien ihm der endgiltige Schritt in justinia-
nischer Zeit doch als eine spontane Erfindung, die eine ganz neue
Entwicklungsreihe des Pflanzenornaments geschaffen hat. Wir waren
im Stande, die frühesten Anfänge und Grundlegungen dieses Processes
bis in die griechische Zeit hinauf zu verfolgen, wofür es Owen Jones
hauptsächlich schon an der nöthigen Kenntniss und Uebersicht des
seither durch die Forschung beigebrachten Materials gefehlt hat. Ferner
glaubte Owen Jones das Wesen der ganzen Veränderung darin zu er-
blicken, dass nunmehr von byzantinischer Zeit an die Blätter sich un-
mittelbar von einer fortlaufenden Ranke, ohne Vermittlung selbständiger
Stengel entwickeln. Darin liegt aber doch nicht der Kern der Sache.
Dieser ist vielmehr in dem Umstande zu suchen, dass das Blatt seine
selbständige Existenz, wie sie ihm in der Natur eigen ist, in der Dekora-
tion verliert. Das Blatt zweigt nicht mehr von der Ranke ab, son-
dern es durchsetzt die Ranke, verwächst mit derselben. An
den byzantinischen Ornamenten von St. Johannes und der Hagia Sophia
ist dieses Verhältniss noch nicht so deutlich ausgesprägt, weil die ein-
zelnen Theilglieder des ursprünglichen Akanthushalbblatts der Reihe
nach scheinbar selbständig von einer Ranke abzweigen. Insofern er-
scheint der Process an den beiden gegebenen Beispielen erst auf halbem
Wege angelangt. Das in der Arabeske ausgeprägte Schlussresultat, die
Ranken von den Spitzenden der unfreien Blätter wiederum weiter
laufen zu lassen, findet sich an den byzantinischen Beispielen noch
nicht völlig unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Dennoch ist es
— wie wir später sehen werden — für die frühere byzantinische Kunst
schon über alle Zweifel hinaus nachzuweisen.
Wenden wir uns nochmals zurück zur Betrachtung von Fig. 142,
wo uns noch zwei Ornamentstreifen des Kapitäls zu besprechen bleiben.
Der eine zieht sich zwischen den zwei krönenden Voluten des Kapitäls
hin und zeigt eine intermittirende Wellenranke in ihrem nackten
Schema. Hier bemerken wir keine Spur von naturalistischen Bildungen:
eine blosse glatte Wellenlinie schlängelt sich von Blüthe zu Blüthe.
Diese letzteren zeigen den Volutenkelch der flachen Palmette in einer
Reducirung, wie sie das oben erörterte Dreiblatt in Fig. 143 aufweist.
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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/308>, abgerufen am 28.11.2024.
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