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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
erreichend, hat es die byzantinische Kunst zeitlebens nur zu halben
Leistungen bringen können.

Also eine Reduction des Kunstformenschatzes war das Nächste,
das die Oströmer mit dem überreichen Erbe der klassischen Antike
vorgenommen haben. Das Eine muss man ihnen aber lassen, dass sie
eine gute Auswahl getroffen haben: so wie sie im Kirchenbau das
treffliche Centralsystem übernahmen, an Stelle der römischen Basilika,
an deren Ungefügigkeit sich das ganze abendländische Mittelalter ab-
zumühen hatte, so behielten sie auch von den ornamentalen Formen
die schmiegsamsten und leistungsfähigsten bei: insbesondere die alten
typischen Wellenrankensysteme.

Indem wir uns nun der Betrachtung des Pflanzenranken-Orna-
ments in der byzantinischen Kunst im Einzelnen zuwenden, müssen
wir abermals die leidige Bemerkung vorausschicken, dass uns hiebei
keinerlei Vorarbeiten zu Statten kommen. Einzelne Details, etwa den
Schnitt des Akanthusblattes betreffend, sind wohl von den Schrift-
stellern, die sich vornehmlich mit den justinianischen Bauten beschäf-
tigt haben, erwähnt und hervorgehoben worden: die Leitmotive der
byzantinischen Dekoration, die grossen Gesichtspunkte, von denen jedes
einzelne Detail Zeugniss giebt, hat man bisher so gut wie ignorirt.
Wir haben an dieser Stelle nicht die Absicht, die diesbezüglich vor-
handene Lücke vollständig auszufüllen: unsere Aufgabe gebietet es,
uns auf das Pflanzenrankenornament zu beschränken. Nichtsdesto-
weniger wird es die Knappheit der einschlägigen Literatur mehr als
einmal nöthig machen, über Dinge Worte zu verlieren, die längst in
einer allgemeineren Bearbeitung der byzantinischen Kunst ihre Erledi-
gung gefunden haben sollten.

Als Ausgangspunkt wähle ich ein Denkmal, dessen Entstehungs-
zeit sichergestellt ist: die im Jahre 463 n. Chr. erbaute Johannes-
kirche zu Konstantinopel
. Fig. 142 giebt nach Salzenberg14) ein
Kapitäl mit darauf liegendem Architrav, soweit derselbe für unseren
Gegenstand von Interesse ist.

Das Kapitäl gehört der sogen. Kompositform an. Den runden
korbartigen Kern umgeben Akanthusvollblätter, die in zwei Reihen
übereinander angeordnet sind. Die Behandlung der Akanthusblätter

14) Altchristliche Baudenkmale von Konstantinopel III. 1; diese Abbildung
ist offenbar noch immer treuer als diejenige bei Pulgher, Les anciennes eglises
byzantines de Constantinople I.
18*

1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
erreichend, hat es die byzantinische Kunst zeitlebens nur zu halben
Leistungen bringen können.

Also eine Reduction des Kunstformenschatzes war das Nächste,
das die Oströmer mit dem überreichen Erbe der klassischen Antike
vorgenommen haben. Das Eine muss man ihnen aber lassen, dass sie
eine gute Auswahl getroffen haben: so wie sie im Kirchenbau das
treffliche Centralsystem übernahmen, an Stelle der römischen Basilika,
an deren Ungefügigkeit sich das ganze abendländische Mittelalter ab-
zumühen hatte, so behielten sie auch von den ornamentalen Formen
die schmiegsamsten und leistungsfähigsten bei: insbesondere die alten
typischen Wellenrankensysteme.

Indem wir uns nun der Betrachtung des Pflanzenranken-Orna-
ments in der byzantinischen Kunst im Einzelnen zuwenden, müssen
wir abermals die leidige Bemerkung vorausschicken, dass uns hiebei
keinerlei Vorarbeiten zu Statten kommen. Einzelne Details, etwa den
Schnitt des Akanthusblattes betreffend, sind wohl von den Schrift-
stellern, die sich vornehmlich mit den justinianischen Bauten beschäf-
tigt haben, erwähnt und hervorgehoben worden: die Leitmotive der
byzantinischen Dekoration, die grossen Gesichtspunkte, von denen jedes
einzelne Detail Zeugniss giebt, hat man bisher so gut wie ignorirt.
Wir haben an dieser Stelle nicht die Absicht, die diesbezüglich vor-
handene Lücke vollständig auszufüllen: unsere Aufgabe gebietet es,
uns auf das Pflanzenrankenornament zu beschränken. Nichtsdesto-
weniger wird es die Knappheit der einschlägigen Literatur mehr als
einmal nöthig machen, über Dinge Worte zu verlieren, die längst in
einer allgemeineren Bearbeitung der byzantinischen Kunst ihre Erledi-
gung gefunden haben sollten.

Als Ausgangspunkt wähle ich ein Denkmal, dessen Entstehungs-
zeit sichergestellt ist: die im Jahre 463 n. Chr. erbaute Johannes-
kirche zu Konstantinopel
. Fig. 142 giebt nach Salzenberg14) ein
Kapitäl mit darauf liegendem Architrav, soweit derselbe für unseren
Gegenstand von Interesse ist.

Das Kapitäl gehört der sogen. Kompositform an. Den runden
korbartigen Kern umgeben Akanthusvollblätter, die in zwei Reihen
übereinander angeordnet sind. Die Behandlung der Akanthusblätter

14) Altchristliche Baudenkmale von Konstantinopel III. 1; diese Abbildung
ist offenbar noch immer treuer als diejenige bei Pulgher, Les anciennes églises
byzantines de Constantinople I.
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[275/0301] 1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst. erreichend, hat es die byzantinische Kunst zeitlebens nur zu halben Leistungen bringen können. Also eine Reduction des Kunstformenschatzes war das Nächste, das die Oströmer mit dem überreichen Erbe der klassischen Antike vorgenommen haben. Das Eine muss man ihnen aber lassen, dass sie eine gute Auswahl getroffen haben: so wie sie im Kirchenbau das treffliche Centralsystem übernahmen, an Stelle der römischen Basilika, an deren Ungefügigkeit sich das ganze abendländische Mittelalter ab- zumühen hatte, so behielten sie auch von den ornamentalen Formen die schmiegsamsten und leistungsfähigsten bei: insbesondere die alten typischen Wellenrankensysteme. Indem wir uns nun der Betrachtung des Pflanzenranken-Orna- ments in der byzantinischen Kunst im Einzelnen zuwenden, müssen wir abermals die leidige Bemerkung vorausschicken, dass uns hiebei keinerlei Vorarbeiten zu Statten kommen. Einzelne Details, etwa den Schnitt des Akanthusblattes betreffend, sind wohl von den Schrift- stellern, die sich vornehmlich mit den justinianischen Bauten beschäf- tigt haben, erwähnt und hervorgehoben worden: die Leitmotive der byzantinischen Dekoration, die grossen Gesichtspunkte, von denen jedes einzelne Detail Zeugniss giebt, hat man bisher so gut wie ignorirt. Wir haben an dieser Stelle nicht die Absicht, die diesbezüglich vor- handene Lücke vollständig auszufüllen: unsere Aufgabe gebietet es, uns auf das Pflanzenrankenornament zu beschränken. Nichtsdesto- weniger wird es die Knappheit der einschlägigen Literatur mehr als einmal nöthig machen, über Dinge Worte zu verlieren, die längst in einer allgemeineren Bearbeitung der byzantinischen Kunst ihre Erledi- gung gefunden haben sollten. Als Ausgangspunkt wähle ich ein Denkmal, dessen Entstehungs- zeit sichergestellt ist: die im Jahre 463 n. Chr. erbaute Johannes- kirche zu Konstantinopel. Fig. 142 giebt nach Salzenberg 14) ein Kapitäl mit darauf liegendem Architrav, soweit derselbe für unseren Gegenstand von Interesse ist. Das Kapitäl gehört der sogen. Kompositform an. Den runden korbartigen Kern umgeben Akanthusvollblätter, die in zwei Reihen übereinander angeordnet sind. Die Behandlung der Akanthusblätter 14) Altchristliche Baudenkmale von Konstantinopel III. 1; diese Abbildung ist offenbar noch immer treuer als diejenige bei Pulgher, Les anciennes églises byzantines de Constantinople I. 18*

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/301>, abgerufen am 24.11.2024.