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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Die Arabeske.
mit fast allen anderen, die die obersten Principien einer jeweiligen
Ornamentik betreffen: absolute Geltung schlechtweg darf man ihr nicht
beimessen. Auch das antike Rankenornament kennt gewisse Durch-
schneidungen: zum Beweise dessen braucht bloss auf das Ranken-
geschlinge (Fig. 83) rückverwiesen zu werden, von den naturalisirenden
Blumenranken der augusteischen Zeit ganz zu geschweigen8). Ander-
seits werden wir Beispiele von Arabesken-Füllungen kennen lernen
(Fig. 197), an denen die Rankenlinien nicht minder wie in der strengen
hellenischen Ornamentik klar und selbständig, ohne alle Durchschnei-
dungen, nebeneinander gelegt erscheinen. Aber in allen diesen Fällen
handelt es sich um Ausnahmen, denen gegenüber die weitaus über-
wiegende Mehrzahl der Denkmäler unsere oben gegebene Definition
rechtfertigt.

Mit der wechselseitigen Durchkreuzung der Rankenlinien hängt
die bereits vordem (S. 262) bei Besprechung von Fig. 139 betonte Eigen-
thümlichkeit der Arabeskenranken zusammen, innerhalb des Gesammt-
musters in regelmässiger Folge bestimmte abgeschlossene Kom-
partimente in Form von sphärischen Polygonen
zu bilden, die für
den darin befindlichen Inhalt (natürlich ebenfalls Blumenranken)
gleichsam den Rahmen bilden. Eine solche Verwendung der Ranken-
linien hat zur Voraussetzung, dass denselben eine selbständige und
bedeutsame Stellung gegenüber den Blüthenmotiven eingeräumt wurde.
Soll die Ranke vollständige Kompartimente bilden, so muss ihr auch
von vornherein die Möglichkeit gegeben sein, sich entsprechend zur
Geltung zu bringen. Nun haben wir als Leitmotiv des Ausbildungs-
processes der klassisch-antiken Ranke das Bestreben gekennzeichnet,
die daran zu Tage tretenden Palmetten von blossen Zwickelfüllungen
zwischen den Rankengabelungen zu wirklichen und selbständigen
Blüthenmotiven zu emancipiren, d. h. die Bedeutung dieser letzteren
gegenüber der verbindenden Ranke zu stärken. Uns schien dieses
Bestreben offenbar zusammen zu hängen mit der naturalisirenden Ten-
denz, die sich in der griechischen Pflanzenornamentik mindestens seit
dem 5. Jahrh., vielleicht sogar schon seit viel früherer Zeit, übermächtig
geltend gemacht hat. Wenn wir nun an der Arabeske das entgegen-

8) An der fortlaufenden Wellenranke römischen Charakters Fig. 130
zweigen lange blüthenbekrönte Rankenstengel ab, die die Hauptranke mehr-
fach durchschneiden; dies geschieht aber in freier, bewusst naturalistischer,
weil asymmetrischer Weise, wogegen die Durchschneidungen der saracenischen
Ranken stets nach einem streng symmetrisch-ornamentalen Grundplan erfolgen.

Die Arabeske.
mit fast allen anderen, die die obersten Principien einer jeweiligen
Ornamentik betreffen: absolute Geltung schlechtweg darf man ihr nicht
beimessen. Auch das antike Rankenornament kennt gewisse Durch-
schneidungen: zum Beweise dessen braucht bloss auf das Ranken-
geschlinge (Fig. 83) rückverwiesen zu werden, von den naturalisirenden
Blumenranken der augusteischen Zeit ganz zu geschweigen8). Ander-
seits werden wir Beispiele von Arabesken-Füllungen kennen lernen
(Fig. 197), an denen die Rankenlinien nicht minder wie in der strengen
hellenischen Ornamentik klar und selbständig, ohne alle Durchschnei-
dungen, nebeneinander gelegt erscheinen. Aber in allen diesen Fällen
handelt es sich um Ausnahmen, denen gegenüber die weitaus über-
wiegende Mehrzahl der Denkmäler unsere oben gegebene Definition
rechtfertigt.

Mit der wechselseitigen Durchkreuzung der Rankenlinien hängt
die bereits vordem (S. 262) bei Besprechung von Fig. 139 betonte Eigen-
thümlichkeit der Arabeskenranken zusammen, innerhalb des Gesammt-
musters in regelmässiger Folge bestimmte abgeschlossene Kom-
partimente in Form von sphärischen Polygonen
zu bilden, die für
den darin befindlichen Inhalt (natürlich ebenfalls Blumenranken)
gleichsam den Rahmen bilden. Eine solche Verwendung der Ranken-
linien hat zur Voraussetzung, dass denselben eine selbständige und
bedeutsame Stellung gegenüber den Blüthenmotiven eingeräumt wurde.
Soll die Ranke vollständige Kompartimente bilden, so muss ihr auch
von vornherein die Möglichkeit gegeben sein, sich entsprechend zur
Geltung zu bringen. Nun haben wir als Leitmotiv des Ausbildungs-
processes der klassisch-antiken Ranke das Bestreben gekennzeichnet,
die daran zu Tage tretenden Palmetten von blossen Zwickelfüllungen
zwischen den Rankengabelungen zu wirklichen und selbständigen
Blüthenmotiven zu emancipiren, d. h. die Bedeutung dieser letzteren
gegenüber der verbindenden Ranke zu stärken. Uns schien dieses
Bestreben offenbar zusammen zu hängen mit der naturalisirenden Ten-
denz, die sich in der griechischen Pflanzenornamentik mindestens seit
dem 5. Jahrh., vielleicht sogar schon seit viel früherer Zeit, übermächtig
geltend gemacht hat. Wenn wir nun an der Arabeske das entgegen-

8) An der fortlaufenden Wellenranke römischen Charakters Fig. 130
zweigen lange blüthenbekrönte Rankenstengel ab, die die Hauptranke mehr-
fach durchschneiden; dies geschieht aber in freier, bewusst naturalistischer,
weil asymmetrischer Weise, wogegen die Durchschneidungen der saracenischen
Ranken stets nach einem streng symmetrisch-ornamentalen Grundplan erfolgen.
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[266/0292] Die Arabeske. mit fast allen anderen, die die obersten Principien einer jeweiligen Ornamentik betreffen: absolute Geltung schlechtweg darf man ihr nicht beimessen. Auch das antike Rankenornament kennt gewisse Durch- schneidungen: zum Beweise dessen braucht bloss auf das Ranken- geschlinge (Fig. 83) rückverwiesen zu werden, von den naturalisirenden Blumenranken der augusteischen Zeit ganz zu geschweigen 8). Ander- seits werden wir Beispiele von Arabesken-Füllungen kennen lernen (Fig. 197), an denen die Rankenlinien nicht minder wie in der strengen hellenischen Ornamentik klar und selbständig, ohne alle Durchschnei- dungen, nebeneinander gelegt erscheinen. Aber in allen diesen Fällen handelt es sich um Ausnahmen, denen gegenüber die weitaus über- wiegende Mehrzahl der Denkmäler unsere oben gegebene Definition rechtfertigt. Mit der wechselseitigen Durchkreuzung der Rankenlinien hängt die bereits vordem (S. 262) bei Besprechung von Fig. 139 betonte Eigen- thümlichkeit der Arabeskenranken zusammen, innerhalb des Gesammt- musters in regelmässiger Folge bestimmte abgeschlossene Kom- partimente in Form von sphärischen Polygonen zu bilden, die für den darin befindlichen Inhalt (natürlich ebenfalls Blumenranken) gleichsam den Rahmen bilden. Eine solche Verwendung der Ranken- linien hat zur Voraussetzung, dass denselben eine selbständige und bedeutsame Stellung gegenüber den Blüthenmotiven eingeräumt wurde. Soll die Ranke vollständige Kompartimente bilden, so muss ihr auch von vornherein die Möglichkeit gegeben sein, sich entsprechend zur Geltung zu bringen. Nun haben wir als Leitmotiv des Ausbildungs- processes der klassisch-antiken Ranke das Bestreben gekennzeichnet, die daran zu Tage tretenden Palmetten von blossen Zwickelfüllungen zwischen den Rankengabelungen zu wirklichen und selbständigen Blüthenmotiven zu emancipiren, d. h. die Bedeutung dieser letzteren gegenüber der verbindenden Ranke zu stärken. Uns schien dieses Bestreben offenbar zusammen zu hängen mit der naturalisirenden Ten- denz, die sich in der griechischen Pflanzenornamentik mindestens seit dem 5. Jahrh., vielleicht sogar schon seit viel früherer Zeit, übermächtig geltend gemacht hat. Wenn wir nun an der Arabeske das entgegen- 8) An der fortlaufenden Wellenranke römischen Charakters Fig. 130 zweigen lange blüthenbekrönte Rankenstengel ab, die die Hauptranke mehr- fach durchschneiden; dies geschieht aber in freier, bewusst naturalistischer, weil asymmetrischer Weise, wogegen die Durchschneidungen der saracenischen Ranken stets nach einem streng symmetrisch-ornamentalen Grundplan erfolgen.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/292>, abgerufen am 23.12.2024.