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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
schweren buschigen Akanthusranke zu verfolgen, um das zu Grunde
liegende intermittirende Schema zu erkennen.

An Fig. 136 sind nun folgende zwei Punkte von einer für die
Folgezeit geradezu fundamentalen Bedeutung: 1. Die obersten Kelch-
blätter (in Form von Akanthushalbblättern) jeder zweiten Lotusblüthe
schlagen oben um und laufen in undulirendem Schwunge, als Wellen-
ranke, abwärts, um unten wieder nach aufwärts zu streben und im
Ueberfallen den Kelch für die nächst benachbarte Lotusblüthe zu bilden.
Es ist zwar nicht bloss ein einziges Akanthushalbblatt, das jede dieser
Verbindungen herstellt, sondern eine Anzahl gleichsam ineinanderge-
schachtelter Blätter, deren Spitzen jeweilig sorgfältig nach Aussen ge-
krümmt sind, wie um damit laut darzuthun, dass sie nicht unfrei sind,
sondern eine selbständige Existenz für sich beanspruchen. Aber das
letzte Blatt bildet ganz unzweideutig den Kelch für die nächste Lotus-

[Abbildung] Fig. 136.

Fries vom Nerva-Forum.

blüthe und damit erscheint das ganze Motiv -- trotz des bemerk-
baren Sträubens gegen dieses Endresultat -- in ein in der Natur nicht
begründetes und derselben zuwiderlaufendes Schema gebracht. --
2. Jede der eben erwähnten Verbindungen gabelt sich in der Mitte,
indem sie einen Blattschössling nach rückwärts aussendet; dieser
Schössling läuft aber nicht frei aus wie an Fig. 134, sondern senkt sich
nach rückwärts bis zum unteren Ansatze der Lotusblüthe, von deren
Scheitel die Verbindung ausgegangen ist und bildet daselbst mit
dem von der entgegengesetzten Seite herankommenden Schössling im
Ueberfallen einen Kelch. Auch in dieser Funktion erscheint das Akan-
thushalbblatt an Stelle eines Rankenstengels getreten, so dass wir in
solchem Falle bereits mit allem Rechte von einer Gabelranke sprechen
könnten. Dieselbe umschliesst, umschreibt69) das eine Blüthenmotiv und

69) Das seit archaischer Zeit bekannte Motiv der umschriebenen Palmette
(S. 170) könnte thatsächlich von Einfluss gewesen sein auf das Aufkommen
der Übung, die überfallenden Blätter der Blüthenkrone gleich verbindenden
Riegl, Stilfragen. 17

10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
schweren buschigen Akanthusranke zu verfolgen, um das zu Grunde
liegende intermittirende Schema zu erkennen.

An Fig. 136 sind nun folgende zwei Punkte von einer für die
Folgezeit geradezu fundamentalen Bedeutung: 1. Die obersten Kelch-
blätter (in Form von Akanthushalbblättern) jeder zweiten Lotusblüthe
schlagen oben um und laufen in undulirendem Schwunge, als Wellen-
ranke, abwärts, um unten wieder nach aufwärts zu streben und im
Ueberfallen den Kelch für die nächst benachbarte Lotusblüthe zu bilden.
Es ist zwar nicht bloss ein einziges Akanthushalbblatt, das jede dieser
Verbindungen herstellt, sondern eine Anzahl gleichsam ineinanderge-
schachtelter Blätter, deren Spitzen jeweilig sorgfältig nach Aussen ge-
krümmt sind, wie um damit laut darzuthun, dass sie nicht unfrei sind,
sondern eine selbständige Existenz für sich beanspruchen. Aber das
letzte Blatt bildet ganz unzweideutig den Kelch für die nächste Lotus-

[Abbildung] Fig. 136.

Fries vom Nerva-Forum.

blüthe und damit erscheint das ganze Motiv — trotz des bemerk-
baren Sträubens gegen dieses Endresultat — in ein in der Natur nicht
begründetes und derselben zuwiderlaufendes Schema gebracht. —
2. Jede der eben erwähnten Verbindungen gabelt sich in der Mitte,
indem sie einen Blattschössling nach rückwärts aussendet; dieser
Schössling läuft aber nicht frei aus wie an Fig. 134, sondern senkt sich
nach rückwärts bis zum unteren Ansatze der Lotusblüthe, von deren
Scheitel die Verbindung ausgegangen ist und bildet daselbst mit
dem von der entgegengesetzten Seite herankommenden Schössling im
Ueberfallen einen Kelch. Auch in dieser Funktion erscheint das Akan-
thushalbblatt an Stelle eines Rankenstengels getreten, so dass wir in
solchem Falle bereits mit allem Rechte von einer Gabelranke sprechen
könnten. Dieselbe umschliesst, umschreibt69) das eine Blüthenmotiv und

69) Das seit archaischer Zeit bekannte Motiv der umschriebenen Palmette
(S. 170) könnte thatsächlich von Einfluss gewesen sein auf das Aufkommen
der Übung, die überfallenden Blätter der Blüthenkrone gleich verbindenden
Riegl, Stilfragen. 17
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[257/0283] 10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament. schweren buschigen Akanthusranke zu verfolgen, um das zu Grunde liegende intermittirende Schema zu erkennen. An Fig. 136 sind nun folgende zwei Punkte von einer für die Folgezeit geradezu fundamentalen Bedeutung: 1. Die obersten Kelch- blätter (in Form von Akanthushalbblättern) jeder zweiten Lotusblüthe schlagen oben um und laufen in undulirendem Schwunge, als Wellen- ranke, abwärts, um unten wieder nach aufwärts zu streben und im Ueberfallen den Kelch für die nächst benachbarte Lotusblüthe zu bilden. Es ist zwar nicht bloss ein einziges Akanthushalbblatt, das jede dieser Verbindungen herstellt, sondern eine Anzahl gleichsam ineinanderge- schachtelter Blätter, deren Spitzen jeweilig sorgfältig nach Aussen ge- krümmt sind, wie um damit laut darzuthun, dass sie nicht unfrei sind, sondern eine selbständige Existenz für sich beanspruchen. Aber das letzte Blatt bildet ganz unzweideutig den Kelch für die nächste Lotus- [Abbildung Fig. 136. Fries vom Nerva-Forum.] blüthe und damit erscheint das ganze Motiv — trotz des bemerk- baren Sträubens gegen dieses Endresultat — in ein in der Natur nicht begründetes und derselben zuwiderlaufendes Schema gebracht. — 2. Jede der eben erwähnten Verbindungen gabelt sich in der Mitte, indem sie einen Blattschössling nach rückwärts aussendet; dieser Schössling läuft aber nicht frei aus wie an Fig. 134, sondern senkt sich nach rückwärts bis zum unteren Ansatze der Lotusblüthe, von deren Scheitel die Verbindung ausgegangen ist und bildet daselbst mit dem von der entgegengesetzten Seite herankommenden Schössling im Ueberfallen einen Kelch. Auch in dieser Funktion erscheint das Akan- thushalbblatt an Stelle eines Rankenstengels getreten, so dass wir in solchem Falle bereits mit allem Rechte von einer Gabelranke sprechen könnten. Dieselbe umschliesst, umschreibt 69) das eine Blüthenmotiv und 69) Das seit archaischer Zeit bekannte Motiv der umschriebenen Palmette (S. 170) könnte thatsächlich von Einfluss gewesen sein auf das Aufkommen der Übung, die überfallenden Blätter der Blüthenkrone gleich verbindenden Riegl, Stilfragen. 17

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/283>, abgerufen am 13.05.2024.