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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
solchen Stellen finden, wo keine Rankengabelung statt hat.
Dieser Punkt ist geradezu charakteristisch für die römische Akanthus-
ranke: die Blätter nehmen immer zu an Zahl, die Stellen wo die Ranken-
stengel frei sichtbar bleiben, schrumpfen immer mehr zusammen, bis
in spätrömischer Zeit von ihnen fast gar nichts mehr ersichtlich ist.
Bis in die späteste Zeit ist aber regelmässig das Spitzende des Akan-
thushalbblattes in der bestimmtesten Weise nach auswärts
gekrümmt
. Das Blatt ist also nicht mit der Ranke verwachsen, son-
dern soll sich von der letzteren selbständig plastisch abheben.

So viel von der fortlaufenden Akanthusranke. Wir haben nun-
mehr zu untersuchen, in welcher Weise der Akanthus in das Schema
der intermittirenden Wellenranke Eingang gefunden hat. Hier war
es weniger die Halbpalmette, als die Palmette, an der sich die Um-
setzung in den Akanthus zu vollziehen hatte. Das Material, das uns für
die Verfolgung des bezüglichen Processes zur Verfügung steht stammt
fast ausschliesslich erst aus der römischen Kaiserzeit. Doch werden
wir kaum fehlgehen wenn wir auf Grund der Beobachtung pompe-
janischer Beispiele annehmen, dass die Umsetzung der Lotusblüthen
und Palmetten mit ihren flachen ungegliederten Fächern in akanthi-
sirende Blattgebilde sich schon in hellenistischer Zeit angebahnt, wo
nicht vollzogen haben muss. Gleichwohl scheint auch hier die Um-
bildung zuerst mit der Halbpalmette oder dem Akanthushalbblatt vor-
gegangen zu sein. Der Beweis liegt vor am unteren Streifen der Gold-
platte Fig. 129. Die alternirenden Lotusblüthen und Palmetten sind
zwar nicht nach entgegengesetzten Richtungen gekehrt wie das Schema
eigentlich erfordern würde, sondern wie am Bogenfries neben einander
gereiht. Aber die Kelche, aus denen sich die Blüthen erheben, sind
durch S-förmig geschwungene Rankenlinien gebildet, und dieser Um-
stand mag es im vorliegenden Falle rechtfertigen, denselben mit der
intermittirenden Wellenranke in Verbindung zu bringen.

Der Akanthus tritt nun im unteren Streifen von Fig. 129 bloss
an den Palmetten auf, und zwar als zwickelfüllendes Akanthushalb-
blatt zwischen dem Volutenkelch und dem Fächer. Es ist im Grunde
dieselbe schüchterne Verwendung des Akanthus, wie wir sie am An-
fange der ganzen Entwicklung, am Erechtheion (Fig. 113) angetroffen
haben.

Bevor wir uns zur Betrachtung der ausgebildeten intermittirenden
Akanthusranke der römischen Zeit wenden, erscheint es zweckmässig
die besondere Bedeutung, die wir diesem Motiv für die weitere Ent-

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
solchen Stellen finden, wo keine Rankengabelung statt hat.
Dieser Punkt ist geradezu charakteristisch für die römische Akanthus-
ranke: die Blätter nehmen immer zu an Zahl, die Stellen wo die Ranken-
stengel frei sichtbar bleiben, schrumpfen immer mehr zusammen, bis
in spätrömischer Zeit von ihnen fast gar nichts mehr ersichtlich ist.
Bis in die späteste Zeit ist aber regelmässig das Spitzende des Akan-
thushalbblattes in der bestimmtesten Weise nach auswärts
gekrümmt
. Das Blatt ist also nicht mit der Ranke verwachsen, son-
dern soll sich von der letzteren selbständig plastisch abheben.

So viel von der fortlaufenden Akanthusranke. Wir haben nun-
mehr zu untersuchen, in welcher Weise der Akanthus in das Schema
der intermittirenden Wellenranke Eingang gefunden hat. Hier war
es weniger die Halbpalmette, als die Palmette, an der sich die Um-
setzung in den Akanthus zu vollziehen hatte. Das Material, das uns für
die Verfolgung des bezüglichen Processes zur Verfügung steht stammt
fast ausschliesslich erst aus der römischen Kaiserzeit. Doch werden
wir kaum fehlgehen wenn wir auf Grund der Beobachtung pompe-
janischer Beispiele annehmen, dass die Umsetzung der Lotusblüthen
und Palmetten mit ihren flachen ungegliederten Fächern in akanthi-
sirende Blattgebilde sich schon in hellenistischer Zeit angebahnt, wo
nicht vollzogen haben muss. Gleichwohl scheint auch hier die Um-
bildung zuerst mit der Halbpalmette oder dem Akanthushalbblatt vor-
gegangen zu sein. Der Beweis liegt vor am unteren Streifen der Gold-
platte Fig. 129. Die alternirenden Lotusblüthen und Palmetten sind
zwar nicht nach entgegengesetzten Richtungen gekehrt wie das Schema
eigentlich erfordern würde, sondern wie am Bogenfries neben einander
gereiht. Aber die Kelche, aus denen sich die Blüthen erheben, sind
durch S-förmig geschwungene Rankenlinien gebildet, und dieser Um-
stand mag es im vorliegenden Falle rechtfertigen, denselben mit der
intermittirenden Wellenranke in Verbindung zu bringen.

Der Akanthus tritt nun im unteren Streifen von Fig. 129 bloss
an den Palmetten auf, und zwar als zwickelfüllendes Akanthushalb-
blatt zwischen dem Volutenkelch und dem Fächer. Es ist im Grunde
dieselbe schüchterne Verwendung des Akanthus, wie wir sie am An-
fange der ganzen Entwicklung, am Erechtheion (Fig. 113) angetroffen
haben.

Bevor wir uns zur Betrachtung der ausgebildeten intermittirenden
Akanthusranke der römischen Zeit wenden, erscheint es zweckmässig
die besondere Bedeutung, die wir diesem Motiv für die weitere Ent-

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[252/0278] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. solchen Stellen finden, wo keine Rankengabelung statt hat. Dieser Punkt ist geradezu charakteristisch für die römische Akanthus- ranke: die Blätter nehmen immer zu an Zahl, die Stellen wo die Ranken- stengel frei sichtbar bleiben, schrumpfen immer mehr zusammen, bis in spätrömischer Zeit von ihnen fast gar nichts mehr ersichtlich ist. Bis in die späteste Zeit ist aber regelmässig das Spitzende des Akan- thushalbblattes in der bestimmtesten Weise nach auswärts gekrümmt. Das Blatt ist also nicht mit der Ranke verwachsen, son- dern soll sich von der letzteren selbständig plastisch abheben. So viel von der fortlaufenden Akanthusranke. Wir haben nun- mehr zu untersuchen, in welcher Weise der Akanthus in das Schema der intermittirenden Wellenranke Eingang gefunden hat. Hier war es weniger die Halbpalmette, als die Palmette, an der sich die Um- setzung in den Akanthus zu vollziehen hatte. Das Material, das uns für die Verfolgung des bezüglichen Processes zur Verfügung steht stammt fast ausschliesslich erst aus der römischen Kaiserzeit. Doch werden wir kaum fehlgehen wenn wir auf Grund der Beobachtung pompe- janischer Beispiele annehmen, dass die Umsetzung der Lotusblüthen und Palmetten mit ihren flachen ungegliederten Fächern in akanthi- sirende Blattgebilde sich schon in hellenistischer Zeit angebahnt, wo nicht vollzogen haben muss. Gleichwohl scheint auch hier die Um- bildung zuerst mit der Halbpalmette oder dem Akanthushalbblatt vor- gegangen zu sein. Der Beweis liegt vor am unteren Streifen der Gold- platte Fig. 129. Die alternirenden Lotusblüthen und Palmetten sind zwar nicht nach entgegengesetzten Richtungen gekehrt wie das Schema eigentlich erfordern würde, sondern wie am Bogenfries neben einander gereiht. Aber die Kelche, aus denen sich die Blüthen erheben, sind durch S-förmig geschwungene Rankenlinien gebildet, und dieser Um- stand mag es im vorliegenden Falle rechtfertigen, denselben mit der intermittirenden Wellenranke in Verbindung zu bringen. Der Akanthus tritt nun im unteren Streifen von Fig. 129 bloss an den Palmetten auf, und zwar als zwickelfüllendes Akanthushalb- blatt zwischen dem Volutenkelch und dem Fächer. Es ist im Grunde dieselbe schüchterne Verwendung des Akanthus, wie wir sie am An- fange der ganzen Entwicklung, am Erechtheion (Fig. 113) angetroffen haben. Bevor wir uns zur Betrachtung der ausgebildeten intermittirenden Akanthusranke der römischen Zeit wenden, erscheint es zweckmässig die besondere Bedeutung, die wir diesem Motiv für die weitere Ent-

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/278>, abgerufen am 13.05.2024.