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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.

Zunächst einige Worte über die Behandlung des Akanthusblattes
als solchen. Diesbezüglich muss an Fig. 130 gegenüber dem typischen
griechischen Akanthus vom Lysikratesdenkmal (Fig. 111) die weichere,
rundlichere Stilisirung der einzelnen ausspringenden Zacken auffallen.
Auch hiefür hat man eine Erklärung gefunden, die an Einfachheit nichts
zu wünschen übrig liesse, wenn sie nur nicht so ganz und gar unkünst-
lerisch wäre. Man hat nämlich diese verschiedene Behandlung des
Akanthus im Osten und im Westen -- spitzzackig in Athen, rundzackig
in Italien -- auf eine Verschiedenheit der natürlichen Vorbilder zurück-
führen wollen, die da und dort dem Künstler zu Gebote standen. Man
fand, dass von der Familie der Akanthuspflanzen in Griechenland die
Species Acanthus spinosa, in Italien dagegen Acanthus mollis besonders
heimisch wäre. Was natürlicher, als dass die Griechen ihren heimischen
dornigen Akanthus, die Italiener dagegen ihren weichblättrigen kopirt
und auf die Denkmäler gebracht hätten? Erschien es uns nun schon
höchst bedenklich anzunehmen, dass die Athener den auf den Kirch-
höfen wuchernden Akanthus auf ihre Grabstelen gebracht haben sollten,
so werden wir vollends den Kopf schütteln müssen ob der Zumuthung,
dass die italischen Steinmetzen dem Beispiele der griechischen folgend
sich ihr heimisches Akanthus-Unkraut mit Lust und Sorgfalt abkonterfeit
hätten. Der weicheren Bildung des Akanthus in römischer Zeit liegt
vielmehr eine Stilwandlung zu Grunde, die nicht bloss auf Italien be-
schränkt geblieben ist, sondern sich auch auf die übrigen kunstschaffenden
Gebiete des römischen Weltreichs erstreckt hat, wie sich insbesondere
an kleinasiatischen Denkmälern monumental erweisen lässt60). Aehnliche
Wandlungen haben sich, wie wir noch sehen werden, mit dem Akanthus
am Ausgange der spätantiken Zeit vollzogen, und gleichermaassen lässt
sich der Akanthus der Hochrenaissance von demjenigen des Louis XIV
und des Empire streng unterscheiden.

Unterziehen wir nun an Fig. 130 die Wellenranke selbst einer Be-
trachtung. Wo Seitenschösslinge von der Hauptranke abzweigen, ist
jedesmal ein Akanthushalbblatt angebracht, und zwar nur ein Blatt,
nicht die Verdoppelung zu einem Kelche wie an Fig. 129. Dagegen
sind die Rankenstengel an anderen Stellen von mehr oder minder
akanthisirenden Kelchen unterbrochen. Von besonderer Wichtigkeit ist
aber der Umstand, dass die Akanthushalbblätter sich auch an

60) Z. B. in Sillyon und Aspendos, bei Lanckoronski, Städte in Pamphy-
lien und Pisidien.
10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.

Zunächst einige Worte über die Behandlung des Akanthusblattes
als solchen. Diesbezüglich muss an Fig. 130 gegenüber dem typischen
griechischen Akanthus vom Lysikratesdenkmal (Fig. 111) die weichere,
rundlichere Stilisirung der einzelnen ausspringenden Zacken auffallen.
Auch hiefür hat man eine Erklärung gefunden, die an Einfachheit nichts
zu wünschen übrig liesse, wenn sie nur nicht so ganz und gar unkünst-
lerisch wäre. Man hat nämlich diese verschiedene Behandlung des
Akanthus im Osten und im Westen — spitzzackig in Athen, rundzackig
in Italien — auf eine Verschiedenheit der natürlichen Vorbilder zurück-
führen wollen, die da und dort dem Künstler zu Gebote standen. Man
fand, dass von der Familie der Akanthuspflanzen in Griechenland die
Species Acanthus spinosa, in Italien dagegen Acanthus mollis besonders
heimisch wäre. Was natürlicher, als dass die Griechen ihren heimischen
dornigen Akanthus, die Italiener dagegen ihren weichblättrigen kopirt
und auf die Denkmäler gebracht hätten? Erschien es uns nun schon
höchst bedenklich anzunehmen, dass die Athener den auf den Kirch-
höfen wuchernden Akanthus auf ihre Grabstelen gebracht haben sollten,
so werden wir vollends den Kopf schütteln müssen ob der Zumuthung,
dass die italischen Steinmetzen dem Beispiele der griechischen folgend
sich ihr heimisches Akanthus-Unkraut mit Lust und Sorgfalt abkonterfeit
hätten. Der weicheren Bildung des Akanthus in römischer Zeit liegt
vielmehr eine Stilwandlung zu Grunde, die nicht bloss auf Italien be-
schränkt geblieben ist, sondern sich auch auf die übrigen kunstschaffenden
Gebiete des römischen Weltreichs erstreckt hat, wie sich insbesondere
an kleinasiatischen Denkmälern monumental erweisen lässt60). Aehnliche
Wandlungen haben sich, wie wir noch sehen werden, mit dem Akanthus
am Ausgange der spätantiken Zeit vollzogen, und gleichermaassen lässt
sich der Akanthus der Hochrenaissance von demjenigen des Louis XIV
und des Empire streng unterscheiden.

Unterziehen wir nun an Fig. 130 die Wellenranke selbst einer Be-
trachtung. Wo Seitenschösslinge von der Hauptranke abzweigen, ist
jedesmal ein Akanthushalbblatt angebracht, und zwar nur ein Blatt,
nicht die Verdoppelung zu einem Kelche wie an Fig. 129. Dagegen
sind die Rankenstengel an anderen Stellen von mehr oder minder
akanthisirenden Kelchen unterbrochen. Von besonderer Wichtigkeit ist
aber der Umstand, dass die Akanthushalbblätter sich auch an

60) Z. B. in Sillyon und Aspendos, bei Lanckoronski, Städte in Pamphy-
lien und Pisidien.
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[251/0277] 10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament. Zunächst einige Worte über die Behandlung des Akanthusblattes als solchen. Diesbezüglich muss an Fig. 130 gegenüber dem typischen griechischen Akanthus vom Lysikratesdenkmal (Fig. 111) die weichere, rundlichere Stilisirung der einzelnen ausspringenden Zacken auffallen. Auch hiefür hat man eine Erklärung gefunden, die an Einfachheit nichts zu wünschen übrig liesse, wenn sie nur nicht so ganz und gar unkünst- lerisch wäre. Man hat nämlich diese verschiedene Behandlung des Akanthus im Osten und im Westen — spitzzackig in Athen, rundzackig in Italien — auf eine Verschiedenheit der natürlichen Vorbilder zurück- führen wollen, die da und dort dem Künstler zu Gebote standen. Man fand, dass von der Familie der Akanthuspflanzen in Griechenland die Species Acanthus spinosa, in Italien dagegen Acanthus mollis besonders heimisch wäre. Was natürlicher, als dass die Griechen ihren heimischen dornigen Akanthus, die Italiener dagegen ihren weichblättrigen kopirt und auf die Denkmäler gebracht hätten? Erschien es uns nun schon höchst bedenklich anzunehmen, dass die Athener den auf den Kirch- höfen wuchernden Akanthus auf ihre Grabstelen gebracht haben sollten, so werden wir vollends den Kopf schütteln müssen ob der Zumuthung, dass die italischen Steinmetzen dem Beispiele der griechischen folgend sich ihr heimisches Akanthus-Unkraut mit Lust und Sorgfalt abkonterfeit hätten. Der weicheren Bildung des Akanthus in römischer Zeit liegt vielmehr eine Stilwandlung zu Grunde, die nicht bloss auf Italien be- schränkt geblieben ist, sondern sich auch auf die übrigen kunstschaffenden Gebiete des römischen Weltreichs erstreckt hat, wie sich insbesondere an kleinasiatischen Denkmälern monumental erweisen lässt 60). Aehnliche Wandlungen haben sich, wie wir noch sehen werden, mit dem Akanthus am Ausgange der spätantiken Zeit vollzogen, und gleichermaassen lässt sich der Akanthus der Hochrenaissance von demjenigen des Louis XIV und des Empire streng unterscheiden. Unterziehen wir nun an Fig. 130 die Wellenranke selbst einer Be- trachtung. Wo Seitenschösslinge von der Hauptranke abzweigen, ist jedesmal ein Akanthushalbblatt angebracht, und zwar nur ein Blatt, nicht die Verdoppelung zu einem Kelche wie an Fig. 129. Dagegen sind die Rankenstengel an anderen Stellen von mehr oder minder akanthisirenden Kelchen unterbrochen. Von besonderer Wichtigkeit ist aber der Umstand, dass die Akanthushalbblätter sich auch an 60) Z. B. in Sillyon und Aspendos, bei Lanckoronski, Städte in Pamphy- lien und Pisidien.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/277>, abgerufen am 13.05.2024.