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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
erklären uns das von der Natur abweichende Aussehen der ältesten
Beispiele durch Unbehilflichkeit, weitgehende Stilisirung o. dgl., oder
wir geben die Vorbildlichkeit der Acanthus spinosa preis und suchen
nach einer anderen Entstehungsursache, einem anderen Ausgangspunkte
für die Ausbildung des Akanthusornaments.

Fassen wir zuerst kurz die erstere Möglichkeit in's Auge. Wem
der Buchstabe der Ueberlieferung über Alles gilt, dem wird es viel-
leicht nicht sehr schwer fallen, einen solchen Erklärungsgrund für die
in zwei wesentlichen Punkten von der Natur abweichende Stilisirung
des Akanthusornaments gelten zu lassen. Der Künstler müsste hienach
sozusagen ein abbreviirtes Akanthusblatt geschaffen haben, bei dem
nicht bloss die einzelnen vorspringenden Glieder in Wegfall gekommen
sind, sondern auch die scharf ausgezackten Konturen unterdrückt
wurden. Denn diese scharf ausgezackten Konturen wie sie z. B. an
Fig. 114 zu bemerken sind, waren an den frühesten plastischen Akan-
thus-Darstellungen, wie wir noch im Besonderen sehen werden, gar
nicht vorhanden, und machen sich bloss an den Abbildungen geltend,
was mit der zeichnerischen Projektion zusammenhängt. Der gemalte
Akanthus der attischen Lekythen (Fig. 114) zeigt daher die spitzen
Zacken am schärfsten ausgeprägt; man vergleiche damit den plastischen
Akanthus, Fig. 113, wo die spitzen Zacken als solche gar nicht her-
vortreten, die einzelnen Glieder oder "Rippen" rundlich endigen, und
nur durch die eingekerbten Furchen zwischen je zwei Rippen in der
Perspektive des Beschauers eine Spitze im Kontur des Blattes entsteht.
Die Kelchblätter der Lotusblüthe links in Fig. 113 machen dies an-
schaulich33). Unten endigen sie in halbrunden Konturen, oben da-
gegen, wo sie sich überschlagen, zeigen sie in der Perspektive spitze
Zacken, wie die seitlichen Blätter an Fig. 114.

Die Stilisirung der Akanthuspflanze wäre hienach mindestens in
einer eigenthümlichen, von den naturalisirenden Neigungen jener Zeit
wenig berührten Weise durchgeführt worden. Erst allmälich wäre man
auf die Wahrnehmung der charakteristischen Eigenschaften der Acan-
thus spinosa gelangt und hätte dieselben im bezüglichen Ornament zum
Ausdrucke gebracht. Zuerst hätten die "Rippen" ihre plastische Gestalt
verloren, wären zu Hohlkehlen geworden, zwischen denen die trennen-
den Grate (nicht mehr Furchen) in spitzen Zacken vorsprangen. Dann
wäre man vollends daran gegangen, diese einzelnen spitzen Zacken

33) Noch besser der perspektivische Blattkelch in Fig. 116.

9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
erklären uns das von der Natur abweichende Aussehen der ältesten
Beispiele durch Unbehilflichkeit, weitgehende Stilisirung o. dgl., oder
wir geben die Vorbildlichkeit der Acanthus spinosa preis und suchen
nach einer anderen Entstehungsursache, einem anderen Ausgangspunkte
für die Ausbildung des Akanthusornaments.

Fassen wir zuerst kurz die erstere Möglichkeit in’s Auge. Wem
der Buchstabe der Ueberlieferung über Alles gilt, dem wird es viel-
leicht nicht sehr schwer fallen, einen solchen Erklärungsgrund für die
in zwei wesentlichen Punkten von der Natur abweichende Stilisirung
des Akanthusornaments gelten zu lassen. Der Künstler müsste hienach
sozusagen ein abbreviirtes Akanthusblatt geschaffen haben, bei dem
nicht bloss die einzelnen vorspringenden Glieder in Wegfall gekommen
sind, sondern auch die scharf ausgezackten Konturen unterdrückt
wurden. Denn diese scharf ausgezackten Konturen wie sie z. B. an
Fig. 114 zu bemerken sind, waren an den frühesten plastischen Akan-
thus-Darstellungen, wie wir noch im Besonderen sehen werden, gar
nicht vorhanden, und machen sich bloss an den Abbildungen geltend,
was mit der zeichnerischen Projektion zusammenhängt. Der gemalte
Akanthus der attischen Lekythen (Fig. 114) zeigt daher die spitzen
Zacken am schärfsten ausgeprägt; man vergleiche damit den plastischen
Akanthus, Fig. 113, wo die spitzen Zacken als solche gar nicht her-
vortreten, die einzelnen Glieder oder „Rippen“ rundlich endigen, und
nur durch die eingekerbten Furchen zwischen je zwei Rippen in der
Perspektive des Beschauers eine Spitze im Kontur des Blattes entsteht.
Die Kelchblätter der Lotusblüthe links in Fig. 113 machen dies an-
schaulich33). Unten endigen sie in halbrunden Konturen, oben da-
gegen, wo sie sich überschlagen, zeigen sie in der Perspektive spitze
Zacken, wie die seitlichen Blätter an Fig. 114.

Die Stilisirung der Akanthuspflanze wäre hienach mindestens in
einer eigenthümlichen, von den naturalisirenden Neigungen jener Zeit
wenig berührten Weise durchgeführt worden. Erst allmälich wäre man
auf die Wahrnehmung der charakteristischen Eigenschaften der Acan-
thus spinosa gelangt und hätte dieselben im bezüglichen Ornament zum
Ausdrucke gebracht. Zuerst hätten die „Rippen“ ihre plastische Gestalt
verloren, wären zu Hohlkehlen geworden, zwischen denen die trennen-
den Grate (nicht mehr Furchen) in spitzen Zacken vorsprangen. Dann
wäre man vollends daran gegangen, diese einzelnen spitzen Zacken

33) Noch besser der perspektivische Blattkelch in Fig. 116.
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[217/0243] 9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments. erklären uns das von der Natur abweichende Aussehen der ältesten Beispiele durch Unbehilflichkeit, weitgehende Stilisirung o. dgl., oder wir geben die Vorbildlichkeit der Acanthus spinosa preis und suchen nach einer anderen Entstehungsursache, einem anderen Ausgangspunkte für die Ausbildung des Akanthusornaments. Fassen wir zuerst kurz die erstere Möglichkeit in’s Auge. Wem der Buchstabe der Ueberlieferung über Alles gilt, dem wird es viel- leicht nicht sehr schwer fallen, einen solchen Erklärungsgrund für die in zwei wesentlichen Punkten von der Natur abweichende Stilisirung des Akanthusornaments gelten zu lassen. Der Künstler müsste hienach sozusagen ein abbreviirtes Akanthusblatt geschaffen haben, bei dem nicht bloss die einzelnen vorspringenden Glieder in Wegfall gekommen sind, sondern auch die scharf ausgezackten Konturen unterdrückt wurden. Denn diese scharf ausgezackten Konturen wie sie z. B. an Fig. 114 zu bemerken sind, waren an den frühesten plastischen Akan- thus-Darstellungen, wie wir noch im Besonderen sehen werden, gar nicht vorhanden, und machen sich bloss an den Abbildungen geltend, was mit der zeichnerischen Projektion zusammenhängt. Der gemalte Akanthus der attischen Lekythen (Fig. 114) zeigt daher die spitzen Zacken am schärfsten ausgeprägt; man vergleiche damit den plastischen Akanthus, Fig. 113, wo die spitzen Zacken als solche gar nicht her- vortreten, die einzelnen Glieder oder „Rippen“ rundlich endigen, und nur durch die eingekerbten Furchen zwischen je zwei Rippen in der Perspektive des Beschauers eine Spitze im Kontur des Blattes entsteht. Die Kelchblätter der Lotusblüthe links in Fig. 113 machen dies an- schaulich 33). Unten endigen sie in halbrunden Konturen, oben da- gegen, wo sie sich überschlagen, zeigen sie in der Perspektive spitze Zacken, wie die seitlichen Blätter an Fig. 114. Die Stilisirung der Akanthuspflanze wäre hienach mindestens in einer eigenthümlichen, von den naturalisirenden Neigungen jener Zeit wenig berührten Weise durchgeführt worden. Erst allmälich wäre man auf die Wahrnehmung der charakteristischen Eigenschaften der Acan- thus spinosa gelangt und hätte dieselben im bezüglichen Ornament zum Ausdrucke gebracht. Zuerst hätten die „Rippen“ ihre plastische Gestalt verloren, wären zu Hohlkehlen geworden, zwischen denen die trennen- den Grate (nicht mehr Furchen) in spitzen Zacken vorsprangen. Dann wäre man vollends daran gegangen, diese einzelnen spitzen Zacken 33) Noch besser der perspektivische Blattkelch in Fig. 116.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/243>, abgerufen am 25.11.2024.