Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.Einleitung. sich dieselben auch dort auf Schritt und Tritt nachweisen, und ihnenist es wohl zuzuschreiben, dass die Beurtheilung der Verhältnisse in der Frühzeit, in der sogen. Völkerwanderungs-, aber auch noch in der Karolingischen und Ottonischen Periode, trotz verhältnissmässig reich- lichen Materials eine vielfach unklare, widerspruchsvolle, der Einheit- lichkeit entbehrende geblieben ist. Aber ich meine, dass man wenig- stens nicht auf so eingewurzelte Vorurtheile und blinden Widerstand stossen würde, wenn man den Versuch machte, das mittelalterlich- abendländische Pflanzenornament in seiner historischen Entwicklung vom Ausgange der klassischen Antike bis zum Aufkommen der Re- naissance darzustellen. Da nun Zeit und Raum vorläufig nicht ge- gestatten Alles zu erörtern, was auf die historische Entwicklung des Pflanzenrankenornaments Bezug hat, so habe ich mich darauf be- schränkt, jene Partien daraus zur Sprache zu bringen, die am meisten einer fundamentalen Klärung bedürftig erscheinen, so dass die bezüg- lichen Klarstellungen in der That als Grundlegungen zu einer darauf weiter zu bauenden Geschichte der Ornamentik gelten dürfen. Es be- treffen diese Partien, wie wir gesehen haben, das Pflanzen- rankenornament im Alterthum und dessen treueste Fortsetzung im kon- servativen Orient, die Arabeske. Auch in der mittelalterlichen Kunst- geschichtsliteratur begegnen wir übrigens in den Beschreibungen von Kunstwerken so überaus häufig der allgemeinen Bezeichnung: "ein Ornament", worauf dann eine nähere Beschreibung folgt, die ganz überflüssig wäre, wenn man das betreffende Ornament in der Gesammt- entwicklungsgeschichte bereits untergebracht hätte. Dass diese Unter- bringung, wenigstens soweit das antike und saracenische Pflanzen- rankenornament in Betracht kommt, nichts weniger als schwer ist, zu zeigen, -- für eine solche systematische Unterbringung eine historische "Grundlegung" zu schaffen: dies ist der Hauptzweck, den ich mir mit dem 3. und 4. Kapitel dieses Buches gestellt habe. Wenn es oberste Aufgabe aller historischen Forschung und so- Einleitung. sich dieselben auch dort auf Schritt und Tritt nachweisen, und ihnenist es wohl zuzuschreiben, dass die Beurtheilung der Verhältnisse in der Frühzeit, in der sogen. Völkerwanderungs-, aber auch noch in der Karolingischen und Ottonischen Periode, trotz verhältnissmässig reich- lichen Materials eine vielfach unklare, widerspruchsvolle, der Einheit- lichkeit entbehrende geblieben ist. Aber ich meine, dass man wenig- stens nicht auf so eingewurzelte Vorurtheile und blinden Widerstand stossen würde, wenn man den Versuch machte, das mittelalterlich- abendländische Pflanzenornament in seiner historischen Entwicklung vom Ausgange der klassischen Antike bis zum Aufkommen der Re- naissance darzustellen. Da nun Zeit und Raum vorläufig nicht ge- gestatten Alles zu erörtern, was auf die historische Entwicklung des Pflanzenrankenornaments Bezug hat, so habe ich mich darauf be- schränkt, jene Partien daraus zur Sprache zu bringen, die am meisten einer fundamentalen Klärung bedürftig erscheinen, so dass die bezüg- lichen Klarstellungen in der That als Grundlegungen zu einer darauf weiter zu bauenden Geschichte der Ornamentik gelten dürfen. Es be- treffen diese Partien, wie wir gesehen haben, das Pflanzen- rankenornament im Alterthum und dessen treueste Fortsetzung im kon- servativen Orient, die Arabeske. Auch in der mittelalterlichen Kunst- geschichtsliteratur begegnen wir übrigens in den Beschreibungen von Kunstwerken so überaus häufig der allgemeinen Bezeichnung: „ein Ornament“, worauf dann eine nähere Beschreibung folgt, die ganz überflüssig wäre, wenn man das betreffende Ornament in der Gesammt- entwicklungsgeschichte bereits untergebracht hätte. Dass diese Unter- bringung, wenigstens soweit das antike und saracenische Pflanzen- rankenornament in Betracht kommt, nichts weniger als schwer ist, zu zeigen, — für eine solche systematische Unterbringung eine historische „Grundlegung“ zu schaffen: dies ist der Hauptzweck, den ich mir mit dem 3. und 4. Kapitel dieses Buches gestellt habe. Wenn es oberste Aufgabe aller historischen Forschung und so- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0024" n="XVIII"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/> sich dieselben auch dort auf Schritt und Tritt nachweisen, und ihnen<lb/> ist es wohl zuzuschreiben, dass die Beurtheilung der Verhältnisse in<lb/> der Frühzeit, in der sogen. Völkerwanderungs-, aber auch noch in der<lb/> Karolingischen und Ottonischen Periode, trotz verhältnissmässig reich-<lb/> lichen Materials eine vielfach unklare, widerspruchsvolle, der Einheit-<lb/> lichkeit entbehrende geblieben ist. Aber ich meine, dass man wenig-<lb/> stens nicht auf so eingewurzelte Vorurtheile und blinden Widerstand<lb/> stossen würde, wenn man den Versuch machte, das mittelalterlich-<lb/> abendländische Pflanzenornament in seiner historischen Entwicklung<lb/> vom Ausgange der klassischen Antike bis zum Aufkommen der Re-<lb/> naissance darzustellen. Da nun Zeit und Raum vorläufig nicht ge-<lb/> gestatten Alles zu erörtern, was auf die historische Entwicklung des<lb/> Pflanzenrankenornaments Bezug hat, so habe ich mich darauf be-<lb/> schränkt, jene Partien daraus zur Sprache zu bringen, die am meisten<lb/> einer fundamentalen Klärung bedürftig erscheinen, so dass die bezüg-<lb/> lichen Klarstellungen in der That als Grundlegungen zu einer darauf<lb/> weiter zu bauenden Geschichte der Ornamentik gelten dürfen. Es be-<lb/> treffen diese Partien, wie wir gesehen haben, das Pflanzen-<lb/> rankenornament im Alterthum und dessen treueste Fortsetzung im kon-<lb/> servativen Orient, die Arabeske. Auch in der mittelalterlichen Kunst-<lb/> geschichtsliteratur begegnen wir übrigens in den Beschreibungen von<lb/> Kunstwerken so überaus häufig der allgemeinen Bezeichnung: „ein<lb/> Ornament“, worauf dann eine nähere Beschreibung folgt, die ganz<lb/> überflüssig wäre, wenn man das betreffende Ornament in der Gesammt-<lb/> entwicklungsgeschichte bereits untergebracht hätte. Dass diese Unter-<lb/> bringung, wenigstens soweit das antike und saracenische Pflanzen-<lb/> rankenornament in Betracht kommt, nichts weniger als schwer ist, zu<lb/> zeigen, — für eine solche systematische Unterbringung eine historische<lb/> „Grundlegung“ zu schaffen: dies ist der Hauptzweck, den ich mir mit<lb/> dem 3. und 4. Kapitel dieses Buches gestellt habe.</p><lb/> <p>Wenn es oberste Aufgabe aller historischen Forschung und so-<lb/> mit auch der kunsthistorischen ist, kritisch zu sondern, so erscheint<lb/> die Grundtendenz dieses Buches nach dem Gesagten vielmehr nach<lb/> der entgegengesetzten Seite gerichtet. Bisher Getrenntes und Ge-<lb/> schiedenes soll untereinander verbunden, und unter einheitlichem Ge-<lb/> sichtspunkte betrachtet werden. In der That liegt die nächste Auf-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [XVIII/0024]
Einleitung.
sich dieselben auch dort auf Schritt und Tritt nachweisen, und ihnen
ist es wohl zuzuschreiben, dass die Beurtheilung der Verhältnisse in
der Frühzeit, in der sogen. Völkerwanderungs-, aber auch noch in der
Karolingischen und Ottonischen Periode, trotz verhältnissmässig reich-
lichen Materials eine vielfach unklare, widerspruchsvolle, der Einheit-
lichkeit entbehrende geblieben ist. Aber ich meine, dass man wenig-
stens nicht auf so eingewurzelte Vorurtheile und blinden Widerstand
stossen würde, wenn man den Versuch machte, das mittelalterlich-
abendländische Pflanzenornament in seiner historischen Entwicklung
vom Ausgange der klassischen Antike bis zum Aufkommen der Re-
naissance darzustellen. Da nun Zeit und Raum vorläufig nicht ge-
gestatten Alles zu erörtern, was auf die historische Entwicklung des
Pflanzenrankenornaments Bezug hat, so habe ich mich darauf be-
schränkt, jene Partien daraus zur Sprache zu bringen, die am meisten
einer fundamentalen Klärung bedürftig erscheinen, so dass die bezüg-
lichen Klarstellungen in der That als Grundlegungen zu einer darauf
weiter zu bauenden Geschichte der Ornamentik gelten dürfen. Es be-
treffen diese Partien, wie wir gesehen haben, das Pflanzen-
rankenornament im Alterthum und dessen treueste Fortsetzung im kon-
servativen Orient, die Arabeske. Auch in der mittelalterlichen Kunst-
geschichtsliteratur begegnen wir übrigens in den Beschreibungen von
Kunstwerken so überaus häufig der allgemeinen Bezeichnung: „ein
Ornament“, worauf dann eine nähere Beschreibung folgt, die ganz
überflüssig wäre, wenn man das betreffende Ornament in der Gesammt-
entwicklungsgeschichte bereits untergebracht hätte. Dass diese Unter-
bringung, wenigstens soweit das antike und saracenische Pflanzen-
rankenornament in Betracht kommt, nichts weniger als schwer ist, zu
zeigen, — für eine solche systematische Unterbringung eine historische
„Grundlegung“ zu schaffen: dies ist der Hauptzweck, den ich mir mit
dem 3. und 4. Kapitel dieses Buches gestellt habe.
Wenn es oberste Aufgabe aller historischen Forschung und so-
mit auch der kunsthistorischen ist, kritisch zu sondern, so erscheint
die Grundtendenz dieses Buches nach dem Gesagten vielmehr nach
der entgegengesetzten Seite gerichtet. Bisher Getrenntes und Ge-
schiedenes soll untereinander verbunden, und unter einheitlichem Ge-
sichtspunkte betrachtet werden. In der That liegt die nächste Auf-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/24 |
Zitationshilfe: | Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. XVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/24>, abgerufen am 16.07.2024. |