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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Einleitung.
erschienene Buch Goodyear's veranlasst wurden. Entlehnung von Mo-
tiven aus altorientalischem Kunstbesitz seitens der griechischen Stämme
bin auch ich geneigt in umfassendem Maasse anzunehmen. Die Aus-
gestaltung dieser Motive im reinen Sinne des Formschönen ist ein längst
anerkanntes Verdienst der Griechen. Was aber das eigenste, selbst-
ständigste und fruchtbarste Produkt der Griechen gewesen ist, das hat
nicht bloss Goodyear ignorirt, sondern es wurde auch von Forschern un-
beachtet gelassen, die mit Eifer nach selbständigen occidentalen Keimen
und Regungen in der frühgriechischen Kunst gesucht haben. Es ist dies
die Erfindung der Ranke, der beweglichen, rhythmischen Pflanzen-
ranke, die wir in sämmtlichen altorientalischen Stilen vergebens suchen,
die dagegen auf nachmals hellenischem Boden uns schon in der myke-
nischen Kunst fertig entgegentritt. Die Blüthenmotive der hellenischen
Ornamentik mögen orientalischer Abkunft gewesen sein: ihre in schönen
Wellenlinien dahinfliessende Rankenverbindung ist specifisch griechisch.
Die Ausbildung der Rankenornamentik steht von da an überhaupt im
Vordergrunde der Fortentwicklung der ornamentalen Künste. Als
saumartig schmales Wellenband mit spiraligen Abzweigungen sehen
wir die Ranke zuerst in die Welt treten, als reichverzweigtes Laubge-
winde überzieht sie in reifer hellenistischer Zeit ganze Flächen. So
geht sie durch die römische Kunst hindurch in das Mittelalter, in das
abendländische sowohl wie in das morgenländische, das saracenische,
und nicht minder in die Renaissance. Das Laubwerk der Kleinmeister
ist ein ebenso legitimer Abkömmling der antik-klassischen Pflanzen-
rankenornamentik, wie das spätgothische Kriechwerk. Jener fort-
währende kausale Zusammenhang im menschlichen Kunstschaffen aller
bisherigen Geschichtsperioden, der sich uns bei der historischen Be-
trachtung der antiken Kunstmythologie und der christlichen Bilder-
typik offenbart: er lässt sich nicht minder für das ornamentale Kunst-
schaffen herstellen, sobald man das Pflanzenornament und die Pflanzen-
ranke durch alle Jahrhunderte hindurch von ihrem ersichtlich ersten
Aufkommen bis in die neueste Zeit verfolgt. Eine so weitgespannte
Aufgabe in vollem Umfange lösen zu wollen, erschien im Rahmen
dieses Buches undurchführbar. Ich habe mich daher darauf beschränkt,
die Entwicklung des Pflanzenrankenornaments von seinen Anfängen
bis zur hellenistischen und römischen Zeit im Einzelnen aufzuzeigen.

Einleitung.
erschienene Buch Goodyear’s veranlasst wurden. Entlehnung von Mo-
tiven aus altorientalischem Kunstbesitz seitens der griechischen Stämme
bin auch ich geneigt in umfassendem Maasse anzunehmen. Die Aus-
gestaltung dieser Motive im reinen Sinne des Formschönen ist ein längst
anerkanntes Verdienst der Griechen. Was aber das eigenste, selbst-
ständigste und fruchtbarste Produkt der Griechen gewesen ist, das hat
nicht bloss Goodyear ignorirt, sondern es wurde auch von Forschern un-
beachtet gelassen, die mit Eifer nach selbständigen occidentalen Keimen
und Regungen in der frühgriechischen Kunst gesucht haben. Es ist dies
die Erfindung der Ranke, der beweglichen, rhythmischen Pflanzen-
ranke, die wir in sämmtlichen altorientalischen Stilen vergebens suchen,
die dagegen auf nachmals hellenischem Boden uns schon in der myke-
nischen Kunst fertig entgegentritt. Die Blüthenmotive der hellenischen
Ornamentik mögen orientalischer Abkunft gewesen sein: ihre in schönen
Wellenlinien dahinfliessende Rankenverbindung ist specifisch griechisch.
Die Ausbildung der Rankenornamentik steht von da an überhaupt im
Vordergrunde der Fortentwicklung der ornamentalen Künste. Als
saumartig schmales Wellenband mit spiraligen Abzweigungen sehen
wir die Ranke zuerst in die Welt treten, als reichverzweigtes Laubge-
winde überzieht sie in reifer hellenistischer Zeit ganze Flächen. So
geht sie durch die römische Kunst hindurch in das Mittelalter, in das
abendländische sowohl wie in das morgenländische, das saracenische,
und nicht minder in die Renaissance. Das Laubwerk der Kleinmeister
ist ein ebenso legitimer Abkömmling der antik-klassischen Pflanzen-
rankenornamentik, wie das spätgothische Kriechwerk. Jener fort-
währende kausale Zusammenhang im menschlichen Kunstschaffen aller
bisherigen Geschichtsperioden, der sich uns bei der historischen Be-
trachtung der antiken Kunstmythologie und der christlichen Bilder-
typik offenbart: er lässt sich nicht minder für das ornamentale Kunst-
schaffen herstellen, sobald man das Pflanzenornament und die Pflanzen-
ranke durch alle Jahrhunderte hindurch von ihrem ersichtlich ersten
Aufkommen bis in die neueste Zeit verfolgt. Eine so weitgespannte
Aufgabe in vollem Umfange lösen zu wollen, erschien im Rahmen
dieses Buches undurchführbar. Ich habe mich daher darauf beschränkt,
die Entwicklung des Pflanzenrankenornaments von seinen Anfängen
bis zur hellenistischen und römischen Zeit im Einzelnen aufzuzeigen.

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[XIII/0019] Einleitung. erschienene Buch Goodyear’s veranlasst wurden. Entlehnung von Mo- tiven aus altorientalischem Kunstbesitz seitens der griechischen Stämme bin auch ich geneigt in umfassendem Maasse anzunehmen. Die Aus- gestaltung dieser Motive im reinen Sinne des Formschönen ist ein längst anerkanntes Verdienst der Griechen. Was aber das eigenste, selbst- ständigste und fruchtbarste Produkt der Griechen gewesen ist, das hat nicht bloss Goodyear ignorirt, sondern es wurde auch von Forschern un- beachtet gelassen, die mit Eifer nach selbständigen occidentalen Keimen und Regungen in der frühgriechischen Kunst gesucht haben. Es ist dies die Erfindung der Ranke, der beweglichen, rhythmischen Pflanzen- ranke, die wir in sämmtlichen altorientalischen Stilen vergebens suchen, die dagegen auf nachmals hellenischem Boden uns schon in der myke- nischen Kunst fertig entgegentritt. Die Blüthenmotive der hellenischen Ornamentik mögen orientalischer Abkunft gewesen sein: ihre in schönen Wellenlinien dahinfliessende Rankenverbindung ist specifisch griechisch. Die Ausbildung der Rankenornamentik steht von da an überhaupt im Vordergrunde der Fortentwicklung der ornamentalen Künste. Als saumartig schmales Wellenband mit spiraligen Abzweigungen sehen wir die Ranke zuerst in die Welt treten, als reichverzweigtes Laubge- winde überzieht sie in reifer hellenistischer Zeit ganze Flächen. So geht sie durch die römische Kunst hindurch in das Mittelalter, in das abendländische sowohl wie in das morgenländische, das saracenische, und nicht minder in die Renaissance. Das Laubwerk der Kleinmeister ist ein ebenso legitimer Abkömmling der antik-klassischen Pflanzen- rankenornamentik, wie das spätgothische Kriechwerk. Jener fort- währende kausale Zusammenhang im menschlichen Kunstschaffen aller bisherigen Geschichtsperioden, der sich uns bei der historischen Be- trachtung der antiken Kunstmythologie und der christlichen Bilder- typik offenbart: er lässt sich nicht minder für das ornamentale Kunst- schaffen herstellen, sobald man das Pflanzenornament und die Pflanzen- ranke durch alle Jahrhunderte hindurch von ihrem ersichtlich ersten Aufkommen bis in die neueste Zeit verfolgt. Eine so weitgespannte Aufgabe in vollem Umfange lösen zu wollen, erschien im Rahmen dieses Buches undurchführbar. Ich habe mich daher darauf beschränkt, die Entwicklung des Pflanzenrankenornaments von seinen Anfängen bis zur hellenistischen und römischen Zeit im Einzelnen aufzuzeigen.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. XIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/19>, abgerufen am 28.03.2024.