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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Einleitung.
der abstrakt-symmetrischen Gebilde, die sich auf Dreieck, Quadrat,
Raute und wenige andere beschränken. Daher hat auch die klassische
Archäologie bei diesem Punkte mit ihren Forschungen eingesetzt; ins-
besondere der Zusammenhang der hellenischen Pflanzenmotive mit
den am Eingange aller eigentlichen Kunstgeschichte stehenden alt-
orientalischen Vorbildern ist bereits vielfach Gegenstand des Nach-
weises und eingehender Erörterungen gewesen. Wenn trotzdem von
Seite der deutschen Archäologie bisher kein Versuch gemacht wurde,
die Geschichte des für die antike Kunst als so maassgebend anerkann-
ten Pflanzenornaments im Zusammenhange von altegyptischer bis
römischer Zeit darzustellen, so muss der Grund hiefür wiederum nur
in der übermächtigen Scheu gesucht werden, die man davor empfand,
ein "blosses Ornament" zum Substrat einer weiter ausgreifenden histori-
schen Betrachtung zu machen. Der Schritt nun, dessen sich ein an
deutschen Schulen Herangebildeter nicht zu unterfangen getraute, wurde
vor Kurzem von einem Amerikaner gemacht. W. G. Goodyear war
der Erste, der in seiner Grammar of the lotus die gesammte antike
Pflanzenornamentik und ein gut Stück darüber hinaus als eine Fort-
bildung der altegyptischen Lotusornamentik erklärt hat; den treiben-
den Anstoss zu der universalen Verbreitung dieser Ornamentik glaubt
er im Sonnenkultus erblicken zu sollen. Um die technisch-materielle
Entstehungstheorie der Künste kümmert sich dieser amerikanische
Forscher augenscheinlich ebensowenig, wie um Europas verfallene
Schlösser und Basalte; der Name Gottfried Sempers ist mir im ganzen
Buche, wenn ich nicht sehr irre, nicht ein einziges Mal aufgestossen.

Im Grunde ist der Hauptgedanke Goodyears nicht ganz neu; sein
unbestrittenes Eigenthum ist bloss der entschlossene Radikalismus, wo-
mit er seiner Idee universale Bedeutung zu geben bemüht ist, sowie
die Motivirung für das Zustandekommen der ganzen Erscheinung.

Was einmal diese letztere -- die Berufung auf den Sonnenkultus
-- betrifft, so schiesst der Autor damit zweifellos weit über das Ziel hin-
aus. Schon für die altegyptische Ornamentik bleibt der allmächtige
Einfluss des Sonnenkult-Symbolismus mindestens zweifelhaft; vollends
unbewiesen und auch unwahrscheinlich wird er, sobald wir die Grenzen
Egyptens überschreiten. Symbolismus ist gewiss auch einer der Fak-
toren gewesen, die zur allmählichen Schaffung des historisch gewordenen

Einleitung.
der abstrakt-symmetrischen Gebilde, die sich auf Dreieck, Quadrat,
Raute und wenige andere beschränken. Daher hat auch die klassische
Archäologie bei diesem Punkte mit ihren Forschungen eingesetzt; ins-
besondere der Zusammenhang der hellenischen Pflanzenmotive mit
den am Eingange aller eigentlichen Kunstgeschichte stehenden alt-
orientalischen Vorbildern ist bereits vielfach Gegenstand des Nach-
weises und eingehender Erörterungen gewesen. Wenn trotzdem von
Seite der deutschen Archäologie bisher kein Versuch gemacht wurde,
die Geschichte des für die antike Kunst als so maassgebend anerkann-
ten Pflanzenornaments im Zusammenhange von altegyptischer bis
römischer Zeit darzustellen, so muss der Grund hiefür wiederum nur
in der übermächtigen Scheu gesucht werden, die man davor empfand,
ein „blosses Ornament“ zum Substrat einer weiter ausgreifenden histori-
schen Betrachtung zu machen. Der Schritt nun, dessen sich ein an
deutschen Schulen Herangebildeter nicht zu unterfangen getraute, wurde
vor Kurzem von einem Amerikaner gemacht. W. G. Goodyear war
der Erste, der in seiner Grammar of the lotus die gesammte antike
Pflanzenornamentik und ein gut Stück darüber hinaus als eine Fort-
bildung der altegyptischen Lotusornamentik erklärt hat; den treiben-
den Anstoss zu der universalen Verbreitung dieser Ornamentik glaubt
er im Sonnenkultus erblicken zu sollen. Um die technisch-materielle
Entstehungstheorie der Künste kümmert sich dieser amerikanische
Forscher augenscheinlich ebensowenig, wie um Europas verfallene
Schlösser und Basalte; der Name Gottfried Sempers ist mir im ganzen
Buche, wenn ich nicht sehr irre, nicht ein einziges Mal aufgestossen.

Im Grunde ist der Hauptgedanke Goodyears nicht ganz neu; sein
unbestrittenes Eigenthum ist bloss der entschlossene Radikalismus, wo-
mit er seiner Idee universale Bedeutung zu geben bemüht ist, sowie
die Motivirung für das Zustandekommen der ganzen Erscheinung.

Was einmal diese letztere — die Berufung auf den Sonnenkultus
— betrifft, so schiesst der Autor damit zweifellos weit über das Ziel hin-
aus. Schon für die altegyptische Ornamentik bleibt der allmächtige
Einfluss des Sonnenkult-Symbolismus mindestens zweifelhaft; vollends
unbewiesen und auch unwahrscheinlich wird er, sobald wir die Grenzen
Egyptens überschreiten. Symbolismus ist gewiss auch einer der Fak-
toren gewesen, die zur allmählichen Schaffung des historisch gewordenen

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[XI/0017] Einleitung. der abstrakt-symmetrischen Gebilde, die sich auf Dreieck, Quadrat, Raute und wenige andere beschränken. Daher hat auch die klassische Archäologie bei diesem Punkte mit ihren Forschungen eingesetzt; ins- besondere der Zusammenhang der hellenischen Pflanzenmotive mit den am Eingange aller eigentlichen Kunstgeschichte stehenden alt- orientalischen Vorbildern ist bereits vielfach Gegenstand des Nach- weises und eingehender Erörterungen gewesen. Wenn trotzdem von Seite der deutschen Archäologie bisher kein Versuch gemacht wurde, die Geschichte des für die antike Kunst als so maassgebend anerkann- ten Pflanzenornaments im Zusammenhange von altegyptischer bis römischer Zeit darzustellen, so muss der Grund hiefür wiederum nur in der übermächtigen Scheu gesucht werden, die man davor empfand, ein „blosses Ornament“ zum Substrat einer weiter ausgreifenden histori- schen Betrachtung zu machen. Der Schritt nun, dessen sich ein an deutschen Schulen Herangebildeter nicht zu unterfangen getraute, wurde vor Kurzem von einem Amerikaner gemacht. W. G. Goodyear war der Erste, der in seiner Grammar of the lotus die gesammte antike Pflanzenornamentik und ein gut Stück darüber hinaus als eine Fort- bildung der altegyptischen Lotusornamentik erklärt hat; den treiben- den Anstoss zu der universalen Verbreitung dieser Ornamentik glaubt er im Sonnenkultus erblicken zu sollen. Um die technisch-materielle Entstehungstheorie der Künste kümmert sich dieser amerikanische Forscher augenscheinlich ebensowenig, wie um Europas verfallene Schlösser und Basalte; der Name Gottfried Sempers ist mir im ganzen Buche, wenn ich nicht sehr irre, nicht ein einziges Mal aufgestossen. Im Grunde ist der Hauptgedanke Goodyears nicht ganz neu; sein unbestrittenes Eigenthum ist bloss der entschlossene Radikalismus, wo- mit er seiner Idee universale Bedeutung zu geben bemüht ist, sowie die Motivirung für das Zustandekommen der ganzen Erscheinung. Was einmal diese letztere — die Berufung auf den Sonnenkultus — betrifft, so schiesst der Autor damit zweifellos weit über das Ziel hin- aus. Schon für die altegyptische Ornamentik bleibt der allmächtige Einfluss des Sonnenkult-Symbolismus mindestens zweifelhaft; vollends unbewiesen und auch unwahrscheinlich wird er, sobald wir die Grenzen Egyptens überschreiten. Symbolismus ist gewiss auch einer der Fak- toren gewesen, die zur allmählichen Schaffung des historisch gewordenen

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. XI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/17>, abgerufen am 25.04.2024.