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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Verwendung der Spirale finden wir ferner auf der steinernen Grabstele
bei Schliemann Mykenä, Fig. 140, in diesem Falle aber bezeichnender-
maassen ohne Zwickelfüllung. Es ergiebt sich daraus der Schluss, dass
die "Mykenäer" das Postulat der Zwickelfüllung nicht als ein absolutes
angesehen haben. Das Gleiche bestätigt der Rückverweis auf Fig. 59
und die hiezu citirten verwandten Beispiele.

Ist es nach all dem Gesagten nothwendig anzunehmen, dass die
Mykenäer das Ornamentmotiv der Spirale von den Egyptern über-
nommen haben? Die Nachahmung egyptischer Spiralmuster ist zwar
durch die Decke von Orchomenos über jeden Zweifel hinaus erwiesen;
genügt dies aber, um das Aufkommen des Motivs selbst in der my-
kenischen Kunst auf Anlernung aus egyptischen Vorbildern zurückzu-
führen? Es ist überaus schwierig, eine entscheidende Antwort auf diese
Frage zu geben. Ich muss mich daher darauf beschränken, meine
Bedenken dagegen zu äussern, dass man heute schon, auf Grund der
blossen Vergleichung der vorliegenden beiderseitigen Denkmäler, eine
vollständige Abhängigkeit der mykenischen von der egyptischen Spiral-
ornamentik behauptet, wie sie z. B. Goodyear über alle Zweifel erhaben
ansieht.

Ich denke dabei keineswegs an die vielfach beliebte Ableitung
der Spirale aus materiell-technischen Nothwendigkeiten, am wenigsten
an die Drahtspirale, die zu diesem Behufe am häufigsten herangezogen
wird. Weit eher könnte man diesbezüglich an die textile Schnur
denken, die auf einen Untergrund aufgelegt und mit Ueberfangstichen
befestigt erscheint. Die fortlaufende Schnur führt in solchem Falle
sehr natürlich zu spiraligen Einrollungen, aus denen sie den Ausgang
selber finden muss. Diese spiraligen Schnürchenstickereien bilden noch
heute die Hauptverzierung der Tracht der Balkanbewohner und weiter
in Kleinasien und Syrien, d. h. in solchen Ländern, die sämmtlich
wenigstens in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausend v. Chr. dem
Hellenismus anheimgefallen waren. Wir werden später sogar Beispiele
kennen lernen (Fig. 87), dass specifisch altgriechische Ornamentmotive
mittels der Schnürchenstickerei bis auf den heutigen Tag auf der
Balkanhalbinsel dargestellt werden. Dies Alles berechtigt uns noch
keineswegs, den Ursprung der Spirale auf die Technik der Schnürchen-
stickerei zurückzuführen. Die Schnürchenstickerei mochte sich des
Motivs der Spirale als des ihr zusagendsten gern bemächtigt haben:
die erste Schaffung desselben kann trotzdem auf das freie menschliche
Kunstwollen zurückgehen. Dasjenige, was mich vor Allem zögern

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Verwendung der Spirale finden wir ferner auf der steinernen Grabstele
bei Schliemann Mykenä, Fig. 140, in diesem Falle aber bezeichnender-
maassen ohne Zwickelfüllung. Es ergiebt sich daraus der Schluss, dass
die „Mykenäer“ das Postulat der Zwickelfüllung nicht als ein absolutes
angesehen haben. Das Gleiche bestätigt der Rückverweis auf Fig. 59
und die hiezu citirten verwandten Beispiele.

Ist es nach all dem Gesagten nothwendig anzunehmen, dass die
Mykenäer das Ornamentmotiv der Spirale von den Egyptern über-
nommen haben? Die Nachahmung egyptischer Spiralmuster ist zwar
durch die Decke von Orchomenos über jeden Zweifel hinaus erwiesen;
genügt dies aber, um das Aufkommen des Motivs selbst in der my-
kenischen Kunst auf Anlernung aus egyptischen Vorbildern zurückzu-
führen? Es ist überaus schwierig, eine entscheidende Antwort auf diese
Frage zu geben. Ich muss mich daher darauf beschränken, meine
Bedenken dagegen zu äussern, dass man heute schon, auf Grund der
blossen Vergleichung der vorliegenden beiderseitigen Denkmäler, eine
vollständige Abhängigkeit der mykenischen von der egyptischen Spiral-
ornamentik behauptet, wie sie z. B. Goodyear über alle Zweifel erhaben
ansieht.

Ich denke dabei keineswegs an die vielfach beliebte Ableitung
der Spirale aus materiell-technischen Nothwendigkeiten, am wenigsten
an die Drahtspirale, die zu diesem Behufe am häufigsten herangezogen
wird. Weit eher könnte man diesbezüglich an die textile Schnur
denken, die auf einen Untergrund aufgelegt und mit Ueberfangstichen
befestigt erscheint. Die fortlaufende Schnur führt in solchem Falle
sehr natürlich zu spiraligen Einrollungen, aus denen sie den Ausgang
selber finden muss. Diese spiraligen Schnürchenstickereien bilden noch
heute die Hauptverzierung der Tracht der Balkanbewohner und weiter
in Kleinasien und Syrien, d. h. in solchen Ländern, die sämmtlich
wenigstens in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausend v. Chr. dem
Hellenismus anheimgefallen waren. Wir werden später sogar Beispiele
kennen lernen (Fig. 87), dass specifisch altgriechische Ornamentmotive
mittels der Schnürchenstickerei bis auf den heutigen Tag auf der
Balkanhalbinsel dargestellt werden. Dies Alles berechtigt uns noch
keineswegs, den Ursprung der Spirale auf die Technik der Schnürchen-
stickerei zurückzuführen. Die Schnürchenstickerei mochte sich des
Motivs der Spirale als des ihr zusagendsten gern bemächtigt haben:
die erste Schaffung desselben kann trotzdem auf das freie menschliche
Kunstwollen zurückgehen. Dasjenige, was mich vor Allem zögern

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[138/0164] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. Verwendung der Spirale finden wir ferner auf der steinernen Grabstele bei Schliemann Mykenä, Fig. 140, in diesem Falle aber bezeichnender- maassen ohne Zwickelfüllung. Es ergiebt sich daraus der Schluss, dass die „Mykenäer“ das Postulat der Zwickelfüllung nicht als ein absolutes angesehen haben. Das Gleiche bestätigt der Rückverweis auf Fig. 59 und die hiezu citirten verwandten Beispiele. Ist es nach all dem Gesagten nothwendig anzunehmen, dass die Mykenäer das Ornamentmotiv der Spirale von den Egyptern über- nommen haben? Die Nachahmung egyptischer Spiralmuster ist zwar durch die Decke von Orchomenos über jeden Zweifel hinaus erwiesen; genügt dies aber, um das Aufkommen des Motivs selbst in der my- kenischen Kunst auf Anlernung aus egyptischen Vorbildern zurückzu- führen? Es ist überaus schwierig, eine entscheidende Antwort auf diese Frage zu geben. Ich muss mich daher darauf beschränken, meine Bedenken dagegen zu äussern, dass man heute schon, auf Grund der blossen Vergleichung der vorliegenden beiderseitigen Denkmäler, eine vollständige Abhängigkeit der mykenischen von der egyptischen Spiral- ornamentik behauptet, wie sie z. B. Goodyear über alle Zweifel erhaben ansieht. Ich denke dabei keineswegs an die vielfach beliebte Ableitung der Spirale aus materiell-technischen Nothwendigkeiten, am wenigsten an die Drahtspirale, die zu diesem Behufe am häufigsten herangezogen wird. Weit eher könnte man diesbezüglich an die textile Schnur denken, die auf einen Untergrund aufgelegt und mit Ueberfangstichen befestigt erscheint. Die fortlaufende Schnur führt in solchem Falle sehr natürlich zu spiraligen Einrollungen, aus denen sie den Ausgang selber finden muss. Diese spiraligen Schnürchenstickereien bilden noch heute die Hauptverzierung der Tracht der Balkanbewohner und weiter in Kleinasien und Syrien, d. h. in solchen Ländern, die sämmtlich wenigstens in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausend v. Chr. dem Hellenismus anheimgefallen waren. Wir werden später sogar Beispiele kennen lernen (Fig. 87), dass specifisch altgriechische Ornamentmotive mittels der Schnürchenstickerei bis auf den heutigen Tag auf der Balkanhalbinsel dargestellt werden. Dies Alles berechtigt uns noch keineswegs, den Ursprung der Spirale auf die Technik der Schnürchen- stickerei zurückzuführen. Die Schnürchenstickerei mochte sich des Motivs der Spirale als des ihr zusagendsten gern bemächtigt haben: die erste Schaffung desselben kann trotzdem auf das freie menschliche Kunstwollen zurückgehen. Dasjenige, was mich vor Allem zögern

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/164>, abgerufen am 25.11.2024.