Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

1. Egyptisches.
Zwickelblume immer jeweilig nur eine Einrollung als supponirte Volute
an; das Fallenlassen der zweiten Volute erklärt sich Goodyear leichten
Herzens so, dass es eben nicht anders möglich war, wenn man ein fort-
laufendes Muster von zusammenhängenden Lotusblüthen herstellen wollte.
Dass aber die Altegypter mit ihren typischen und hieratischen Mustern
gar so willkürlich umgesprungen wären, um nur einen untergeordneten
dekorativen Zweck zu erreichen, dafür bleibt Goodyear den Nachweis
schuldig und dies ist wohl auch der Punkt, an dem seine Beweisführung
scheitert.

Das Material aus den Stadien früherer Entwicklung, das Goodyear
für seine Beweisführung fehlt, lässt auch uns im Stiche, wenn wir
unsere Erklärung an der Hand von Denkmälern belegen wollten. Aber
wir sind wenigstens im Stande analoge Erscheinungen von anerkannt
primitivem Kunstgebiete her beizubringen, aus deren Betrachtung sich
die für unsere bezügliche Erklärung grundlegenden zwei Thatsachen
ergeben werden: erstens, dass dem Element der Spirale in primitiven
Kunststilen ein rein geometrischer Charakter innewohnt, und zweitens,
dass das Postulat der Zwickelfüllung in denselben primitiven Kunst-
stilen als ein sehr wichtiges und maassgebendes empfunden wurde.

Ein solches primitives Kunstgebiet ist dasjenige, das die Europäer
bei den Eingeborenen Neuseelands, bei den Maori, vorgefunden haben.
Heute ist diese Kunst unter europäischem Einflusse allerdings schon so
gut wie zu Grunde gegangen; aber man hat rechtzeitig Denkmäler der-
selben in genügender Anzahl in europäische Museen zu retten gewusst.
Eine sehr bedeutende und lehrreiche Collektion, die der österreichische
Reisende Andreas Reischek zusammengebracht hat, ist in das Wiener
naturhistorische Hofmuseum gelangt. Das Studium dieser Sammlung
ergiebt in Bezug auf die Ornamentik ein festgeschlossenes und abgerun-
detes, aber doch von Allem was wir sonst an Künsten der Naturvölker
kennen, eigenthümlich abweichendes Bild, wie es kaum anders zu er-
klären ist, als unter Annahme einer lang andauernden, selbständigen,
auf ihren eigenen Spuren einhergegangenen Entwicklung. Dazu kommt,
dass Neuseeland kein Metall besitzt, seine Eingeborenen daher auf den
Gebrauch von Steingeräthen angewiesen waren, in deren Herstellung
sie eine überaus grosse Geschicklichkeit erwarben. Wären die Maori
in der That, wie Einzelne (darunter begreiflichermaassen auch Goodyear)
annehmen möchten, mit der malayischen Kulturwelt in Verbindung
gestanden, so wäre es kaum denkbar, dass nicht ab und zu Metall-
geräthe auf die Inseln gekommen wären. Möglicherweise haben auch

1. Egyptisches.
Zwickelblume immer jeweilig nur eine Einrollung als supponirte Volute
an; das Fallenlassen der zweiten Volute erklärt sich Goodyear leichten
Herzens so, dass es eben nicht anders möglich war, wenn man ein fort-
laufendes Muster von zusammenhängenden Lotusblüthen herstellen wollte.
Dass aber die Altegypter mit ihren typischen und hieratischen Mustern
gar so willkürlich umgesprungen wären, um nur einen untergeordneten
dekorativen Zweck zu erreichen, dafür bleibt Goodyear den Nachweis
schuldig und dies ist wohl auch der Punkt, an dem seine Beweisführung
scheitert.

Das Material aus den Stadien früherer Entwicklung, das Goodyear
für seine Beweisführung fehlt, lässt auch uns im Stiche, wenn wir
unsere Erklärung an der Hand von Denkmälern belegen wollten. Aber
wir sind wenigstens im Stande analoge Erscheinungen von anerkannt
primitivem Kunstgebiete her beizubringen, aus deren Betrachtung sich
die für unsere bezügliche Erklärung grundlegenden zwei Thatsachen
ergeben werden: erstens, dass dem Element der Spirale in primitiven
Kunststilen ein rein geometrischer Charakter innewohnt, und zweitens,
dass das Postulat der Zwickelfüllung in denselben primitiven Kunst-
stilen als ein sehr wichtiges und maassgebendes empfunden wurde.

Ein solches primitives Kunstgebiet ist dasjenige, das die Europäer
bei den Eingeborenen Neuseelands, bei den Maori, vorgefunden haben.
Heute ist diese Kunst unter europäischem Einflusse allerdings schon so
gut wie zu Grunde gegangen; aber man hat rechtzeitig Denkmäler der-
selben in genügender Anzahl in europäische Museen zu retten gewusst.
Eine sehr bedeutende und lehrreiche Collektion, die der österreichische
Reisende Andreas Reischek zusammengebracht hat, ist in das Wiener
naturhistorische Hofmuseum gelangt. Das Studium dieser Sammlung
ergiebt in Bezug auf die Ornamentik ein festgeschlossenes und abgerun-
detes, aber doch von Allem was wir sonst an Künsten der Naturvölker
kennen, eigenthümlich abweichendes Bild, wie es kaum anders zu er-
klären ist, als unter Annahme einer lang andauernden, selbständigen,
auf ihren eigenen Spuren einhergegangenen Entwicklung. Dazu kommt,
dass Neuseeland kein Metall besitzt, seine Eingeborenen daher auf den
Gebrauch von Steingeräthen angewiesen waren, in deren Herstellung
sie eine überaus grosse Geschicklichkeit erwarben. Wären die Maori
in der That, wie Einzelne (darunter begreiflichermaassen auch Goodyear)
annehmen möchten, mit der malayischen Kulturwelt in Verbindung
gestanden, so wäre es kaum denkbar, dass nicht ab und zu Metall-
geräthe auf die Inseln gekommen wären. Möglicherweise haben auch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0101" n="75"/><fw place="top" type="header">1. Egyptisches.</fw><lb/>
Zwickelblume immer jeweilig nur eine Einrollung als supponirte Volute<lb/>
an; das Fallenlassen der zweiten Volute erklärt sich Goodyear leichten<lb/>
Herzens so, dass es eben nicht anders möglich war, wenn man ein fort-<lb/>
laufendes Muster von zusammenhängenden Lotusblüthen herstellen wollte.<lb/>
Dass aber die Altegypter mit ihren typischen und hieratischen Mustern<lb/>
gar so willkürlich umgesprungen wären, um nur einen untergeordneten<lb/>
dekorativen Zweck zu erreichen, dafür bleibt Goodyear den Nachweis<lb/>
schuldig und dies ist wohl auch der Punkt, an dem seine Beweisführung<lb/>
scheitert.</p><lb/>
            <p>Das Material aus den Stadien früherer Entwicklung, das Goodyear<lb/>
für seine Beweisführung fehlt, lässt auch uns im Stiche, wenn wir<lb/>
unsere Erklärung an der Hand von Denkmälern belegen wollten. Aber<lb/>
wir sind wenigstens im Stande analoge Erscheinungen von anerkannt<lb/>
primitivem Kunstgebiete her beizubringen, aus deren Betrachtung sich<lb/>
die für unsere bezügliche Erklärung grundlegenden zwei Thatsachen<lb/>
ergeben werden: erstens, dass dem Element der Spirale in primitiven<lb/>
Kunststilen ein rein geometrischer Charakter innewohnt, und zweitens,<lb/>
dass das Postulat der Zwickelfüllung in denselben primitiven Kunst-<lb/>
stilen als ein sehr wichtiges und maassgebendes empfunden wurde.</p><lb/>
            <p>Ein solches primitives Kunstgebiet ist dasjenige, das die Europäer<lb/>
bei den Eingeborenen Neuseelands, bei den Maori, vorgefunden haben.<lb/>
Heute ist diese Kunst unter europäischem Einflusse allerdings schon so<lb/>
gut wie zu Grunde gegangen; aber man hat rechtzeitig Denkmäler der-<lb/>
selben in genügender Anzahl in europäische Museen zu retten gewusst.<lb/>
Eine sehr bedeutende und lehrreiche Collektion, die der österreichische<lb/>
Reisende Andreas Reischek zusammengebracht hat, ist in das Wiener<lb/>
naturhistorische Hofmuseum gelangt. Das Studium dieser Sammlung<lb/>
ergiebt in Bezug auf die Ornamentik ein festgeschlossenes und abgerun-<lb/>
detes, aber doch von Allem was wir sonst an Künsten der Naturvölker<lb/>
kennen, eigenthümlich abweichendes Bild, wie es kaum anders zu er-<lb/>
klären ist, als unter Annahme einer lang andauernden, selbständigen,<lb/>
auf ihren eigenen Spuren einhergegangenen Entwicklung. Dazu kommt,<lb/>
dass Neuseeland kein Metall besitzt, seine Eingeborenen daher auf den<lb/>
Gebrauch von Steingeräthen angewiesen waren, in deren Herstellung<lb/>
sie eine überaus grosse Geschicklichkeit erwarben. Wären die Maori<lb/>
in der That, wie Einzelne (darunter begreiflichermaassen auch Goodyear)<lb/>
annehmen möchten, mit der malayischen Kulturwelt in Verbindung<lb/>
gestanden, so wäre es kaum denkbar, dass nicht ab und zu Metall-<lb/>
geräthe auf die Inseln gekommen wären. Möglicherweise haben auch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0101] 1. Egyptisches. Zwickelblume immer jeweilig nur eine Einrollung als supponirte Volute an; das Fallenlassen der zweiten Volute erklärt sich Goodyear leichten Herzens so, dass es eben nicht anders möglich war, wenn man ein fort- laufendes Muster von zusammenhängenden Lotusblüthen herstellen wollte. Dass aber die Altegypter mit ihren typischen und hieratischen Mustern gar so willkürlich umgesprungen wären, um nur einen untergeordneten dekorativen Zweck zu erreichen, dafür bleibt Goodyear den Nachweis schuldig und dies ist wohl auch der Punkt, an dem seine Beweisführung scheitert. Das Material aus den Stadien früherer Entwicklung, das Goodyear für seine Beweisführung fehlt, lässt auch uns im Stiche, wenn wir unsere Erklärung an der Hand von Denkmälern belegen wollten. Aber wir sind wenigstens im Stande analoge Erscheinungen von anerkannt primitivem Kunstgebiete her beizubringen, aus deren Betrachtung sich die für unsere bezügliche Erklärung grundlegenden zwei Thatsachen ergeben werden: erstens, dass dem Element der Spirale in primitiven Kunststilen ein rein geometrischer Charakter innewohnt, und zweitens, dass das Postulat der Zwickelfüllung in denselben primitiven Kunst- stilen als ein sehr wichtiges und maassgebendes empfunden wurde. Ein solches primitives Kunstgebiet ist dasjenige, das die Europäer bei den Eingeborenen Neuseelands, bei den Maori, vorgefunden haben. Heute ist diese Kunst unter europäischem Einflusse allerdings schon so gut wie zu Grunde gegangen; aber man hat rechtzeitig Denkmäler der- selben in genügender Anzahl in europäische Museen zu retten gewusst. Eine sehr bedeutende und lehrreiche Collektion, die der österreichische Reisende Andreas Reischek zusammengebracht hat, ist in das Wiener naturhistorische Hofmuseum gelangt. Das Studium dieser Sammlung ergiebt in Bezug auf die Ornamentik ein festgeschlossenes und abgerun- detes, aber doch von Allem was wir sonst an Künsten der Naturvölker kennen, eigenthümlich abweichendes Bild, wie es kaum anders zu er- klären ist, als unter Annahme einer lang andauernden, selbständigen, auf ihren eigenen Spuren einhergegangenen Entwicklung. Dazu kommt, dass Neuseeland kein Metall besitzt, seine Eingeborenen daher auf den Gebrauch von Steingeräthen angewiesen waren, in deren Herstellung sie eine überaus grosse Geschicklichkeit erwarben. Wären die Maori in der That, wie Einzelne (darunter begreiflichermaassen auch Goodyear) annehmen möchten, mit der malayischen Kulturwelt in Verbindung gestanden, so wäre es kaum denkbar, dass nicht ab und zu Metall- geräthe auf die Inseln gekommen wären. Möglicherweise haben auch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/101
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/101>, abgerufen am 06.05.2024.