Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753.

Bild:
<< vorherige Seite



rige verdorben sei. Denn dies müßte den
Nutzen ihrer guten Schriften schwächen, und
hiesse, das mit einer Hand niederreissen, was
man mit der andern gebauet hätte.

Alles, was sie redete und verrichtete, war
mit einem natürlichen, ungezwungenen und er-
habenen Wesen begleitet. Dies setzte sie über
allen angenommenen Schein, und den Ver-
dacht davon, so weit hinaus, daß der Fehler,
welcher gemeiniglich dem gelehrten Frauenzim-
mer, zu ihrem Nachtheil, beigemessen wird, ihr
nie zur Last geleget wurde. Denn bei allen ih-
ren treflichen Vorzügen war sie williger zu hö-
ren,
als zu reden, und daher kam ohne Zwei-
fel kein geringer Theil ihres Wachsthums.

Ob sie gleich in den Englischen, Franzö-
sischen
und Jtaliänischen Dichtern sehr be-
lesen war, und die Lateinischen Schriftsteller
des Alterthums aus den besten Uebersetzungen
kannte, so pflegte sie doch selten, weder in ih-
ren Briefen, noch in ihren Gesprächen, etwas
daraus anzuführen, so sehr glücklich und gut
ihr Gedächtniß auch war. Sie that solches
hauptsächlich aus Bescheidenheit, und um nicht
sonderbar zu scheinen, wie man dem gelehr-
ten Frauenzimmer Schuld giebt.

Herr Wyerley sagte einst von ihr: "Sie
"wäre so reich an eigner Kenntniß, und machte
"gemeiniglich so feine Anmerkungen über die
"Menschen und andre Vorfälle, daß sie selten
"eines fremden Beistandes bedürfte." "Denn,

"setzte



rige verdorben ſei. Denn dies muͤßte den
Nutzen ihrer guten Schriften ſchwaͤchen, und
hieſſe, das mit einer Hand niederreiſſen, was
man mit der andern gebauet haͤtte.

Alles, was ſie redete und verrichtete, war
mit einem natuͤrlichen, ungezwungenen und er-
habenen Weſen begleitet. Dies ſetzte ſie uͤber
allen angenommenen Schein, und den Ver-
dacht davon, ſo weit hinaus, daß der Fehler,
welcher gemeiniglich dem gelehrten Frauenzim-
mer, zu ihrem Nachtheil, beigemeſſen wird, ihr
nie zur Laſt geleget wurde. Denn bei allen ih-
ren treflichen Vorzuͤgen war ſie williger zu hoͤ-
ren,
als zu reden, und daher kam ohne Zwei-
fel kein geringer Theil ihres Wachsthums.

Ob ſie gleich in den Engliſchen, Franzoͤ-
ſiſchen
und Jtaliaͤniſchen Dichtern ſehr be-
leſen war, und die Lateiniſchen Schriftſteller
des Alterthums aus den beſten Ueberſetzungen
kannte, ſo pflegte ſie doch ſelten, weder in ih-
ren Briefen, noch in ihren Geſpraͤchen, etwas
daraus anzufuͤhren, ſo ſehr gluͤcklich und gut
ihr Gedaͤchtniß auch war. Sie that ſolches
hauptſaͤchlich aus Beſcheidenheit, und um nicht
ſonderbar zu ſcheinen, wie man dem gelehr-
ten Frauenzimmer Schuld giebt.

Herr Wyerley ſagte einſt von ihr: „Sie
„waͤre ſo reich an eigner Kenntniß, und machte
„gemeiniglich ſo feine Anmerkungen uͤber die
„Menſchen und andre Vorfaͤlle, daß ſie ſelten
„eines fremden Beiſtandes beduͤrfte.” „Denn,

„ſetzte
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0306" n="298"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/><hi rendition="#fr">rige verdorben</hi> &#x017F;ei. Denn dies mu&#x0364;ßte den<lb/>
Nutzen ihrer guten Schriften &#x017F;chwa&#x0364;chen, und<lb/>
hie&#x017F;&#x017F;e, das mit einer Hand niederrei&#x017F;&#x017F;en, was<lb/>
man mit der andern gebauet ha&#x0364;tte.</p><lb/>
          <p>Alles, was &#x017F;ie redete und verrichtete, war<lb/>
mit einem natu&#x0364;rlichen, ungezwungenen und er-<lb/>
habenen We&#x017F;en begleitet. Dies &#x017F;etzte &#x017F;ie u&#x0364;ber<lb/>
allen angenommenen Schein, und den Ver-<lb/>
dacht davon, &#x017F;o weit hinaus, daß der Fehler,<lb/>
welcher gemeiniglich dem gelehrten Frauenzim-<lb/>
mer, zu ihrem Nachtheil, beigeme&#x017F;&#x017F;en wird, ihr<lb/>
nie zur La&#x017F;t geleget wurde. Denn bei allen ih-<lb/>
ren treflichen Vorzu&#x0364;gen war &#x017F;ie williger zu <hi rendition="#fr">ho&#x0364;-<lb/>
ren,</hi> als zu reden, und daher kam ohne Zwei-<lb/>
fel kein geringer Theil ihres Wachsthums.</p><lb/>
          <p>Ob &#x017F;ie gleich in den <hi rendition="#fr">Engli&#x017F;chen, Franzo&#x0364;-<lb/>
&#x017F;i&#x017F;chen</hi> und <hi rendition="#fr">Jtalia&#x0364;ni&#x017F;chen</hi> Dichtern &#x017F;ehr be-<lb/>
le&#x017F;en war, und die <hi rendition="#fr">Lateini&#x017F;chen</hi> Schrift&#x017F;teller<lb/>
des Alterthums aus den be&#x017F;ten Ueber&#x017F;etzungen<lb/>
kannte, &#x017F;o pflegte &#x017F;ie doch &#x017F;elten, weder in ih-<lb/>
ren Briefen, noch in ihren Ge&#x017F;pra&#x0364;chen, etwas<lb/>
daraus anzufu&#x0364;hren, &#x017F;o &#x017F;ehr glu&#x0364;cklich und gut<lb/>
ihr Geda&#x0364;chtniß auch war. Sie that &#x017F;olches<lb/>
haupt&#x017F;a&#x0364;chlich aus Be&#x017F;cheidenheit, und um nicht<lb/><hi rendition="#fr">&#x017F;onderbar</hi> zu &#x017F;cheinen, wie man dem gelehr-<lb/>
ten Frauenzimmer Schuld giebt.</p><lb/>
          <p>Herr <hi rendition="#fr">Wyerley</hi> &#x017F;agte ein&#x017F;t von ihr: &#x201E;Sie<lb/>
&#x201E;wa&#x0364;re &#x017F;o reich an eigner Kenntniß, und machte<lb/>
&#x201E;gemeiniglich &#x017F;o feine Anmerkungen u&#x0364;ber die<lb/>
&#x201E;Men&#x017F;chen und andre Vorfa&#x0364;lle, daß &#x017F;ie &#x017F;elten<lb/>
&#x201E;eines fremden Bei&#x017F;tandes bedu&#x0364;rfte.&#x201D; &#x201E;Denn,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;&#x017F;etzte</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[298/0306] rige verdorben ſei. Denn dies muͤßte den Nutzen ihrer guten Schriften ſchwaͤchen, und hieſſe, das mit einer Hand niederreiſſen, was man mit der andern gebauet haͤtte. Alles, was ſie redete und verrichtete, war mit einem natuͤrlichen, ungezwungenen und er- habenen Weſen begleitet. Dies ſetzte ſie uͤber allen angenommenen Schein, und den Ver- dacht davon, ſo weit hinaus, daß der Fehler, welcher gemeiniglich dem gelehrten Frauenzim- mer, zu ihrem Nachtheil, beigemeſſen wird, ihr nie zur Laſt geleget wurde. Denn bei allen ih- ren treflichen Vorzuͤgen war ſie williger zu hoͤ- ren, als zu reden, und daher kam ohne Zwei- fel kein geringer Theil ihres Wachsthums. Ob ſie gleich in den Engliſchen, Franzoͤ- ſiſchen und Jtaliaͤniſchen Dichtern ſehr be- leſen war, und die Lateiniſchen Schriftſteller des Alterthums aus den beſten Ueberſetzungen kannte, ſo pflegte ſie doch ſelten, weder in ih- ren Briefen, noch in ihren Geſpraͤchen, etwas daraus anzufuͤhren, ſo ſehr gluͤcklich und gut ihr Gedaͤchtniß auch war. Sie that ſolches hauptſaͤchlich aus Beſcheidenheit, und um nicht ſonderbar zu ſcheinen, wie man dem gelehr- ten Frauenzimmer Schuld giebt. Herr Wyerley ſagte einſt von ihr: „Sie „waͤre ſo reich an eigner Kenntniß, und machte „gemeiniglich ſo feine Anmerkungen uͤber die „Menſchen und andre Vorfaͤlle, daß ſie ſelten „eines fremden Beiſtandes beduͤrfte.” „Denn, „ſetzte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/306
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/306>, abgerufen am 24.11.2024.