Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753.

Bild:
<< vorherige Seite



ne Exempel anführen, die abscheulich seyn
würden, wenn sie nicht so gemein wären. Bei
meiner Seele! Bruder, in der menschlichen
Natur steckt mehr wilde Grausamkeit, als man
gemeiniglich denket. So ist es ja kein grosser
Fehler, daß wir zuweilen die unschuldigen
Thiere an unserm eignen Geschlecht rächen.

Jch will dir die Exempel geben.

Wie gewöhnlich ist es nicht, daß Männer
und Mädgen, (ich will mein Exempel von dem
Vogel behalten) ohne den geringsten Gewis-
sensbiß, einen besiederten Sänger fangen, in
ein Bauer einsperren, ihn martern, und ihm
gar mit glühenden Nehnadeln die Augen aus-
stechen, der gleichwol im Verhältniß mit sei-
ner Grösse, mehr Leben hat, als sie selbst,
(denn ein Vogel ist lauter Seele) und also auch
mehr Gefühl hat, als ein menschliches Ge-
schöpf! Und zu derselben Zeit, wenn ein ehr-
licher Kerl das Glück hat, durch die höflichste
Ueberredung und sanftesten Künste, ein einge-
sperrtes Mädgen zu bewegen, daß sie zu ihrer
Flucht mit die Hand bietet, und sie damit eins
ist, dem Bauer zu entfliehen, und sich in die
alles-erquickende freie Luft zu begeben, Him-
mel! welch ein Geschrei wird gegen den er-
hoben!

Recht so, wie wir beide einmal in einem
elenden Dorfe bei Chelmsford sahen, da ein
armer hungriger Fuchs der Gelegenheit war-
nahm, eine hagere Gans beim Halse kriegte,

und



ne Exempel anfuͤhren, die abſcheulich ſeyn
wuͤrden, wenn ſie nicht ſo gemein waͤren. Bei
meiner Seele! Bruder, in der menſchlichen
Natur ſteckt mehr wilde Grauſamkeit, als man
gemeiniglich denket. So iſt es ja kein groſſer
Fehler, daß wir zuweilen die unſchuldigen
Thiere an unſerm eignen Geſchlecht raͤchen.

Jch will dir die Exempel geben.

Wie gewoͤhnlich iſt es nicht, daß Maͤnner
und Maͤdgen, (ich will mein Exempel von dem
Vogel behalten) ohne den geringſten Gewiſ-
ſensbiß, einen beſiederten Saͤnger fangen, in
ein Bauer einſperren, ihn martern, und ihm
gar mit gluͤhenden Nehnadeln die Augen aus-
ſtechen, der gleichwol im Verhaͤltniß mit ſei-
ner Groͤſſe, mehr Leben hat, als ſie ſelbſt,
(denn ein Vogel iſt lauter Seele) und alſo auch
mehr Gefuͤhl hat, als ein menſchliches Ge-
ſchoͤpf! Und zu derſelben Zeit, wenn ein ehr-
licher Kerl das Gluͤck hat, durch die hoͤflichſte
Ueberredung und ſanfteſten Kuͤnſte, ein einge-
ſperrtes Maͤdgen zu bewegen, daß ſie zu ihrer
Flucht mit die Hand bietet, und ſie damit eins
iſt, dem Bauer zu entfliehen, und ſich in die
alles-erquickende freie Luft zu begeben, Him-
mel! welch ein Geſchrei wird gegen den er-
hoben!

Recht ſo, wie wir beide einmal in einem
elenden Dorfe bei Chelmsford ſahen, da ein
armer hungriger Fuchs der Gelegenheit war-
nahm, eine hagere Gans beim Halſe kriegte,

und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0134" n="126"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
ne Exempel anfu&#x0364;hren, die <hi rendition="#fr">ab&#x017F;cheulich</hi> &#x017F;eyn<lb/>
wu&#x0364;rden, wenn &#x017F;ie nicht &#x017F;o <hi rendition="#fr">gemein</hi> wa&#x0364;ren. Bei<lb/>
meiner Seele! Bruder, in der men&#x017F;chlichen<lb/>
Natur &#x017F;teckt mehr wilde Grau&#x017F;amkeit, als man<lb/>
gemeiniglich denket. So i&#x017F;t es ja kein gro&#x017F;&#x017F;er<lb/>
Fehler, daß wir zuweilen die un&#x017F;chuldigen<lb/>
Thiere an un&#x017F;erm eignen Ge&#x017F;chlecht ra&#x0364;chen.</p><lb/>
          <p>Jch will dir die Exempel geben.</p><lb/>
          <p>Wie gewo&#x0364;hnlich i&#x017F;t es nicht, daß Ma&#x0364;nner<lb/>
und Ma&#x0364;dgen, (ich will mein Exempel von dem<lb/>
Vogel behalten) ohne den gering&#x017F;ten Gewi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ensbiß, einen be&#x017F;iederten Sa&#x0364;nger fangen, in<lb/>
ein Bauer ein&#x017F;perren, ihn martern, und ihm<lb/>
gar mit glu&#x0364;henden Nehnadeln die Augen aus-<lb/>
&#x017F;techen, der gleichwol im Verha&#x0364;ltniß mit &#x017F;ei-<lb/>
ner Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, mehr Leben hat, als &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
(denn ein Vogel i&#x017F;t lauter Seele) und al&#x017F;o auch<lb/>
mehr Gefu&#x0364;hl hat, als ein men&#x017F;chliches Ge-<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;pf! Und zu der&#x017F;elben Zeit, wenn ein ehr-<lb/>
licher Kerl das Glu&#x0364;ck hat, durch die ho&#x0364;flich&#x017F;te<lb/>
Ueberredung und &#x017F;anfte&#x017F;ten Ku&#x0364;n&#x017F;te, ein einge-<lb/>
&#x017F;perrtes Ma&#x0364;dgen zu bewegen, daß &#x017F;ie zu ihrer<lb/>
Flucht mit die Hand bietet, und &#x017F;ie damit eins<lb/>
i&#x017F;t, dem Bauer zu entfliehen, und &#x017F;ich in die<lb/>
alles-erquickende freie Luft zu begeben, Him-<lb/>
mel! welch ein Ge&#x017F;chrei wird gegen den er-<lb/>
hoben!</p><lb/>
          <p>Recht &#x017F;o, wie wir beide einmal in einem<lb/>
elenden Dorfe bei <hi rendition="#fr">Chelmsford</hi> &#x017F;ahen, da ein<lb/>
armer hungriger Fuchs der Gelegenheit war-<lb/>
nahm, eine hagere Gans beim Hal&#x017F;e kriegte,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[126/0134] ne Exempel anfuͤhren, die abſcheulich ſeyn wuͤrden, wenn ſie nicht ſo gemein waͤren. Bei meiner Seele! Bruder, in der menſchlichen Natur ſteckt mehr wilde Grauſamkeit, als man gemeiniglich denket. So iſt es ja kein groſſer Fehler, daß wir zuweilen die unſchuldigen Thiere an unſerm eignen Geſchlecht raͤchen. Jch will dir die Exempel geben. Wie gewoͤhnlich iſt es nicht, daß Maͤnner und Maͤdgen, (ich will mein Exempel von dem Vogel behalten) ohne den geringſten Gewiſ- ſensbiß, einen beſiederten Saͤnger fangen, in ein Bauer einſperren, ihn martern, und ihm gar mit gluͤhenden Nehnadeln die Augen aus- ſtechen, der gleichwol im Verhaͤltniß mit ſei- ner Groͤſſe, mehr Leben hat, als ſie ſelbſt, (denn ein Vogel iſt lauter Seele) und alſo auch mehr Gefuͤhl hat, als ein menſchliches Ge- ſchoͤpf! Und zu derſelben Zeit, wenn ein ehr- licher Kerl das Gluͤck hat, durch die hoͤflichſte Ueberredung und ſanfteſten Kuͤnſte, ein einge- ſperrtes Maͤdgen zu bewegen, daß ſie zu ihrer Flucht mit die Hand bietet, und ſie damit eins iſt, dem Bauer zu entfliehen, und ſich in die alles-erquickende freie Luft zu begeben, Him- mel! welch ein Geſchrei wird gegen den er- hoben! Recht ſo, wie wir beide einmal in einem elenden Dorfe bei Chelmsford ſahen, da ein armer hungriger Fuchs der Gelegenheit war- nahm, eine hagere Gans beim Halſe kriegte, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/134
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/134>, abgerufen am 20.04.2024.